Mit der Verhaftung Abdullah Öcalans und der Zerschlagung seiner Guerilla im Nordirak dürfte die türkische Armee die PKK militärisch besiegt haben. Die Frage bleibt, ob die Türkei bereit ist, ihren Sieg zur Versöhnung mit dem kurdischen Volk zu nutzen Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Die PKK besiegt, die Kurdenfrage bleibt

Das Ambiente hätte gar nicht passender sein können. Während der türkische Polizeichef Necati Bilican gestern anläßlich eines Deutschlandbesuches im Bundeskriminalamt in Wiesbaden der Sondervorstellung einer Anti-Terror-Einheit zuschaute, wurde ihm von deutschen Kollegen ein Zettel überreicht. Abdullah Öcalan in Rom verhaftet! Wahrscheinlich konnte Bilican sein Glück gar nicht fassen. Jedenfalls eilte er sofort zum Telefon, wenige Minuten später unterbrachen die türkischen Fernsehstationen ihre Sendungen: „Staatsfeind Nummer eins gefaßt.“

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Vierzehn Jahre, seit dem Sommer 1984, als die damals kaum bekannte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihren ersten Angriff auf eine Kaserne im Südosten der Türkei unternahm, haben Abdullah Öcalan und seine Truppe das Land in Atem gehalten. Kein Konflikt hat die Türkei seit dem Putsch im September 1980 so geprägt wie der Krieg in Kurdistan. Kein Konflikt hat die Gesellschaft so verändert. Und kein anderer Konflikt hat so viel Leid über das Land gebracht. Über 30.000 Menschen sind in diesem Krieg getötet worden, unzählige kurdische Familien wurden aus ihren Dörfern vertrieben, die die Armee vor allem entlang der türkisch-irakischen Grenze systematisch zerstörte, um der Guerilla die Basis zu entziehen.

Von Beginn an haben türkische Politiker, vor allem unter dem Druck der Militärs, Gespräche mit der PKK verweigert. Selbst indirekte Kontakte wurden polizeilich verfolgt. Und die kurdischen Parteien, die sich unter wechselnden Namen in den letzten zehn Jahren immer wieder neu formierten, wurden nicht etwa als mögliche Verhandlungspartner angesehen, sondern als Kollaborateure der PKK unter Druck gesetzt. Jetzt steht das Militär vor seinem größten Triumph. Zeitgleich mit der Verhaftung Abdullah Öcalans findet in den Bergen des Nordirak eine vermutlich letzte Verfolgungsjagd auf versprengte PKK- Gruppen statt.

Das Finale begann vor rund vier Wochen, als die türkische Regierung scheinbar völlig überraschend Syrien ultimativ aufforderte, seine Unterstützung für die PKK einzustellen und Öcalan abzuschieben. Ein zunächst als Manöver getarnter Truppenaufmarsch entlang der syrischen Grenze wurde zu einer Kulisse ausgebaut, vor deren Hintergrund die Türkei dann ziemlich offen mit militärischen Aktionen gegen Syrien drohte. Um einen Krieg zu verhindern, zu dem das türkische Militär mit israelischer Rückendeckung offenbar in letzter Konsequenz bereit war, erschien der ägyptische Präsident Mubarak auf dem Plan und jettete so lange zwischen Kairo, Ankara und Damaskus hin und her, bis Syriens Präsident Assad bereit war, einzulenken. Syrien unterschrieb einen Vertrag, in dem es zugab, daß die PKK eine terroristische Gruppe sei und in Syrien keinerlei Unterstützung mehr erhalten würde. Dem türkischen Geheimdienst wurden Beweise zugesagt, daß Syrien tatsächlich gegen die PKK und ihren großen Führer Abdullah Öcalan vorgehen würde.

Seitdem übertrumpften sich die türkischen Massenblätter mit immer neuen Enthüllungen über den Aufenthaltsort Öcalans. Libyen, Sudan, Zypern, Griechenland – alle einschlägig Verdächtigen tauchten auf und wurden wieder verworfen. Dann konzentrierten sich die Meldungen auf Rußland. Der türkische Geheimdienst wollte Öcalan lokalisiert haben, die Russen wußten angeblich nichts über Öcalans Aufenthalt.

Rußland: Kein Asyl für einen Terroristen

Erst als die türkische Regierung einen formellen Auslieferungsantrag einreichte und das russische Parlament Präsident Jelzin aufforderte, Abdullah Öcalan Asyl zu gewähren, gab es Gespräche zwischen russischen und türkischen Offiziellen. Niemals, hieß es dann, würde Rußland einem Terroristen Asyl gewähren. Unterderhand sondierten die Russen, ob entweder Weißrußland oder Armenien bereit wären, Öcalan aufzunehmen. Nachdem von dort auch nur Ablehnungen kamen, wurde es für Öcalan eng.

Warum er von Rußland aus dann letztlich nach Italien ging, kann im Moment nur gemutmaßt werden. Im kurdischen MED-TV ließ Öcalan gestern nachmittag eine offenbar vor seiner Festnahme vorbereitete Erklärung verlesen, wonach er in Absprache mit italienischen Offiziellen dorthin gegangen ist. Zweifellos ist Italien eine starke PKK-Basis. Zuletzt gab es im September heftige Verstimmungen in Ankara, als in Rom in den Räumen des Parlaments das von der PKK dominierte kurdische Exilparlament tagte. Bereits gestern nachmittag hat die türkische Regierung in Rom einen Auslieferungsantrag eingereicht.

Unterdessen geht im Nordirak die Vernichtungsschlacht gegen die PKK weiter. Nach türkischen Geheimdienstinformationen hatte sich Ende letzter Woche eine Gruppe von 500 PKK-Partisanen von ihren Basen im syrisch kontrollierten Libanon aufgemacht, um zu versuchen, sich quer durch den Nordirak nach Iran durchzuschlagen. Die Gruppe soll unter der Führung des Bruders von Abdullah, Osman Öcalan, unterwegs sein. Daraufhin startete die türkische Armee erneut einen Einmarsch in den Nordirak. 30.000 Soldaten mit Luftunterstützung und dem Einsatz von Panzern versuchen der Gruppe den Weg in den Iran abzuschneiden. Außerdem startete die Armee noch eine großangelegte Operation im Südosten des Landes. Schon vor zwei Tagen meldete die mit der türkischen Armee verbündete irakisch-kurdische Partei KDP, das letzte Aufgebot der PKK sei umzingelt.

Eigenen Angaben zufolge hat die türkische Armee mittlerweile fast das gesamte kurdische Grenzgebiet zwischen Irak und Iran abgeriegelt. Nach offiziellen Meldungen sind im Nordirak in den letzten Tagen 85 PKKler und in den kurdischen Gebieten der Türkei 21 Angehörige der PKK getötet worden.

Mit der Verhaftung Öcalans und der Zerschlagung der letzten PKK-Gruppen im Nordirak dürfte die türkische Armee es geschafft haben, die PKK militärisch zu besiegen. Zurück bleibt die kurdische Frage. Viele kurdische Dörfer sind zerstört, Millionen Kurden sind in den letzten 14 Jahren in die Elendsviertel der großen Städte im Westen vertrieben worden. Die soziale Frage, die ja mit auslösend für den Krieg war, ist aktuell wie eh und je. Die nächsten wochen und Monate werden zeigen, ob die türkische Regierung in der Lage ist, ihren militärischen Sieg zur Versöhnung mit der kurdischen Bevölkerung des Landes zu nutzen.