: Ich wollt' ich wär ein Huhn
Michael Rutschky entwirft eine Typologie der Romane, die wir für unser Leben schreiben. Die schäbige Wirklichkeit verschwindet hinter präsentablen Geschichten von Rittern und anderen modernen Helden ■ Von Niels Werber
In einer beliebigen Einkaufszone kann man sie beobachten. Das Paar fällt auf. Er ist ein ordentlich-spießig gekleideter Mann mit Bäuchlein im sogenannten „besten“ Alter, sie ist eine noch junge, schlanke, ja grazile Frau und betont sexy angezogen. Er ist weiß, sie nicht, vermutlich stammt sie aus Thailand, vielleicht von den Philippinen. Wir vermuten sofort, daß der Herr diese Dame per Anzeige erworben hat, aber im Gespräch hört man eine andere Geschichte, die von der Dame, die noch nicht allzu gut deutsch spricht, nicht korrigiert wird: Er habe sie im Urlaub unter armseligen Umständen kennengelernt, ihre Familie habe sie, trotz ihrer guten Schulbildung, zu niederen Arbeiten genötigt, eine Zwangsheirat stand bevor. In vier Wochen habe man sich gut kennen- und schätzen gelernt, er habe sie spontan gefragt, ob sie nicht mit ihm nach Deutschland kommen wolle, um ihrer prekären Lage zu entgehen und neu anzufangen. Sie habe zugestimmt, neu beginnen wollte sie aber nur mit ihm, so habe man geheiratet, beide seien sehr glücklich.
Diese Geschichte würde Michael Rutschky einen „Lebensroman“ nennen. Er erzählt nicht, wie es war, sondern wie es gewesen sein sollte. Weil „niemand kriegt, was er sich wirklich wünscht“, brauche „jedermann seinen höchstpersönlichen Roman, wie das Leben auszusehen hätte“. Da unser Schmerbauch weder sich noch anderen sagen wird, daß er von Frauen nie beachtet worden ist und deshalb begonnen hat, nach Bangkok zu fliegen, benötigt er einen Roman, der aus einigen Bruchstücken der Realität eine kohärente Story zaubert, mit der es sich leben läßt. Die schäbige Wirklichkeit verschwindet hinter dem präsentablen Ritterroman vom tapferen Helden, der die bedrohte Jungfer vor dem Drachen rettet.
Von Freud und Lacan borgt sich Rutschky die Einsicht, daß der Mangel uns antreibt, weil man begehrt, was man nicht hat. Erfüllung der Wünsche wäre eine tödliche Gefahr. „Niemand kriegt, was er sich wirklich wünscht. Deshalb machen wir ja weiter. Wenn man nur ein einziges Mal bekäme, was man sich wirklich wünscht, man würde auf der Stelle mit dem Leben aufhören.“
Die Redaktionssekretärin verzehrt sich danach, einen Roman zu schreiben; ihre Überzeugung, zu Höherem berufen zu sein, wertet ihre alltäglich Arbeit ab und tröstet sie zugleich mit der Vorstellung, insgeheim sei sie etwas Besseres als eine Schreibkraft. Mit dieser Kombination von Mangel und Kompensation macht sich der Lebensroman unentbehrlich und unwiderlegbar. Sigmund Freud, den Rutschky nur „Professor Freud“ nennt, hat den Phänotyp dieser Phantasien in „Der Familienroman der Neurotiker“ beschrieben. Der „jugendliche Mensch“, so faßt Rutschky zusammen, bildet sich ein, er stamme gar nicht von seinen Eltern ab, „sondern von anderen, edleren, die eines Tages kommen werden, um meine hohe Abkunft vor aller Welt zu bekräftigen“. Der Adel ist, wie in einer Shakespeare- Komödie, hinter der Oberfläche des Alltags verborgen, doch einst wird er durch sie hindurchglühen. Wenn die Sekretärin einige Biere getrunken hat, dann deutet sie schon einmal an, „daß sich in ihr eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen verbirgt, die das letzte Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts gesehen hat“. Den „Künstlerroman“ nennt Rutschky diese Phantasie, welche die tägliche Arbeit, die Marx als „entfremdet“ bezeichnet hat, mit jener wertvollen Arbeit konfrontiert, „die man eigentlich tun müßte“. Auch der Marxismus erzählt einen „Künstlerroman“. Daß nie wird, was er verspricht, schadet seiner Faszination nicht im Geringsten.
Die zwanglose, aber doch erstaunlich komplette Typologie des Buches versorgt uns mit den typischen Mustern von zehn Weisen, sich die Welt zurechtzuphantasieren. Die Protagonisten sind gut gewählt, die Situationen klingen vertraut. Wer kennt nicht zumindest einige von ihnen: etwa den Schlechterverdienenden, der sich vorstellt, an der Börse ein Vermögen zu machen und permanent über Märkte, Aktien und Termingeschäfte schwafelt; den Selfmademan, den sein selbsterworbenes Vermögen aus der angestammten Schicht herauskatapultiert hat und der nun ratlos nach „standesgemäßem“ Anschluß sucht; den K- Gruppen-Kader der siebziger Jahre, der sich in die Nachfolge Lenins hineinträumt; den Therapeuten, der jedes Problem in ein psychotherapeutisches zu verwandeln versteht und von der endgültigen talking cure der gesamten Gesellschaft träumt.
Rutschky entfaltet seine Typologie anhand literarischer, historischer, erfundener und anscheinend authentischer Beispiele: die Heldin eines frappanten „Desillusionsromans“ war Rutschkys Tante. Wann immer es paßt, stützt er die Evidenzen seiner plastischen Geschichten durch Forschungsmeinungen – verwiesen wird etwa auf „Prof. Luhmann“, „Prof. Hobsbawm“, „Prof. Weber“, aber „Roland Barthes“ und „George Bataille“: Ich habe nicht herausfinden können, nach welcher manierierten Logik mal der Titel, mal der Vorname genannt wird –, wobei die große Stärke dieser Einlassungen darin liegt, daß Rutschky die jeweiligen Positionen mit ein paar Worten zusammenzufassen und dann an einem seiner Lebensromane vorzuführen versteht.
Anhand der Bildungsgeschichte Helmut Brunkhorsts, eines Cordhosen tragenden Universitätsdozenten kleinbürgerlicher Herkunft, kann jeder nachvollziehen, was „Prof. Bourdieu“ mit seiner Theorie der sozialen Distinktion meint. Wo Rutschky seine eigenen narrativen Fähigkeiten mit seiner Gabe zum theoretischen Aphorismus zu verbinden versteht, finden sich die Höhepukte seines Buches. Daß einige Details falsch sind – so hielt sich etwa Stefan George „bekanntlich“ keinesfalls „für die Berufung zum Reichskanzler bereit“, allenfalls wollten einige seiner Jünger ihm nahelegen, als Reichspräsident zu kandidieren –, schadet diesem Wurf nicht im Mindesten. Wer Rutschkys Aufforderung nachkommt, „sich selber als Versuchsperson zu nehmen“, wird zur Bestätigung seiner Beobachtungen neigen.
Die Lebensromane begnügen sich nun nicht damit, Historikern, Literaturwissenschaftlern und letztlich jedem eine Typologie für Geschichten vorzuschlagen, mit denen sie konfrontiert werden. Sie stecken auch voller Polemik. Professor H. Brunkhorst, 49 Jahre alt, unverheiratet, feste Lebenspartnerin, der gleich in mehreren Lebensromanen eine Rolle spielt, wird sehr genau aufs Korn genommen. Wir lesen von seiner Abnabelung vom finanziell saturierten, mental aber spießbürgerlichen Elternhaus, von seinem Philosophiestudium, seinen Problemen, als Dozent eine Stelle zu finden, seiner Gleichgültigkeit gegenüber ästhetischen Fragen, die erklären soll, warum er die Wohnungseinrichtung „seiner Lebensgefährtin überlassen“ habe, von seiner Schreibhemmung. Einen Prof. H. Brunkhorst gibt es genauso wie den Grund seiner Schreibhemmung: „das Problem ist Bolz, Professor Bolz, einer seiner vielen Kollegen, die über die Zukunft entlang der neuen Medien solche Bücher fortlaufend veröffentlichen, Bücher, in denen dieselben Autoren über dieselbe Zukunft zu immer neuen Einschätzungen kommen.“ Ein paar Sätze O-Ton, aus dem Zusammenhang genommen, vermitteln die Einschätzung, das Brunkhorst eher Angst vor einem Schaumschläger hat. Auch Brunkhorst will etwas über die Zukunft schreiben, schon als Kind las er gern Science-fiction, doch die Publikationsmaschine Bolz hat ihm den Schneid abgekauft. Also kein theoretisches, ein fiktives Werk müßte man schreiben. Brunkhorst imaginiert einen „Mad Scientist, Doktor Seltsam, Doktor Caligari, einen fanatisch gründlichen Deutschen“, der Bolz „in den Schatten stellen“ werde. Und Rutschky gibt ihm einen Namen: „Florian Rötzer“. Mit ein paar gut zusammengestellten Zitaten aus den „Digitalen Weltentwürfen“ reiht Rutschky Rötzer ein in den Typus des „Zukunftsromans“, der von Personen fabuliert wird, die „daran leiden, daß sie keine Zukunft mehr haben“, und deshalb der gesamten Menschheit die Apokalypse verkündigen.
Das mag so sein oder auch nicht – fragwürdig an diesen Passagen ist, daß wissenschaftliche Positionen diskreditiert werden, indem man sie als Resultat eines lächerlichen biographischen Syndroms bezeichnet: der „Erwartungsangst“ der von der Midlife-crisis geschüttelten Herren um die 50, die ahnen, daß sie die nächste große Epoche nicht mehr verstehen werden und daher verkünden, die ihre sei ohnehin die letzte. Auf eine sachliche Auseinandersetzung mit den Theorien von Bolz und Rötzer ist Rutschky aber gar nicht aus, da sie nur als Bausteine eines Lebensromans für ihn von Bedeutung sind. Die Polemik ist schwer zu übersehen, auch wenn die Namen in Anführungszeichen stehen und Hauke „Helmut“ heißt. Sicherlich ist sie auch gelungen, weil sie trifft, doch halte ich sie zumindest für unhöflich, da den Beleidigten keine Satisfaktionsmöglichkeit auf der Sachebene gewährt wird.
Noch ein Wort der Kritik: Rutschkys theoretische Hintergrundüberzeugung, die Psychoanalyse, versorgt ihn nicht nur mit einem guten Ausgangspunkt für sein Vorhaben, sondern beschert ihm auch ein Problem: Die Lebensromane neigen zum Ahistorischen. So fabulieren die Diplompädagogin Christa, Hitler und Niccolo Machiavelli den gleichen „politischen Roman“. Derselbe „Ritterroman“ sorgt dafür, daß Roland sein Schwert auf den Namen Durenhart tauft oder Artus das seine Excalibur nennt, während in „einer anderen Klasse Ritter der Markenname des Motorbikes – Suzuki, Kawasaki – an diese Stelle“ getreten oder noch im Namen der Kalaschnikow ein „fernes Echo des Schwerternamens“ zu erkennen sei. Die alten und die neuen Ritter, leiden sie alle unter demselben „Phalluskult“? Rutschky zitiert hier Freud und hält sich zunächst selbst bedeckt, kommt aber dann zu dem Ergebnis, daß bei den modernen Ritterscharen von der Neonazihorde über Widerstands- und Freischärlergruppen bis zu linksradikalen Schlägertrupps oder somalischen Kriegsherrn „Regressionen in die Imaginations- und Sozialformen der Stammesgesellschaft jederzeit möglich“ seien; Mittelalter und Moderne sind also nur einen Schwertstreich voneinander entfernt. Dies sind akademische Einwände, Rutschkys faszinierende Studie wird sie mühelos überstehen.
Michael Rutschky: „Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren“. Steidl Verlag, Göttingen 1998, 304 Seiten, 38 DM
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