piwik no script img

Offene Türen für harte Jungs

■ Entflohener Entführer fand im Potsdamer Gefängnis ideale Bedingungen vor. Wachpersonal fiel auf simplen Trick herein. Verbrecher präparierte Dachluke. Europaweite Fahndung

Eines der spektakulärsten Verbrechen der vergangenen Jahre hat zu einem handfesten Justizskandal in Brandenburg geführt. Das Verbrechen: Der Gastwirtssohn Matthias Hintze war am 14. September 1997 vor dem Haus seiner Eltern in Geltow in Mecklenburg-Vorpommern verschleppt worden. Die Täter forderten eine Million Mark Lösegeld. Zwei Tage nach Festnahme der beiden mutmaßlichen Entführer am 6. Oktober wurde die Leiche des 20jährigen in einem Erdloch entdeckt. Matthias Hintze war darin elendig erstickt.

Der Skandal: Einem der mutmaßlichen Entführer gelang am Samstag abend die Flucht aus dem Gefängnis Potsdam. Erst vierzehn Stunden später wurde sein Verschwinden bemerkt. Der 38jährige Russe Sergej Serow hatte sich vom Dach des Gefängnisses mit Bettlaken abgeseilt, die noch am Sonntag nachmittag an dem Gebäude hingen. Die Laken endeten auf dem Dach einer Garage, von wo der Hof des benachbarten Verkehrsministeriums leicht zu erreichen ist. Obwohl die Flucht um 22.47 Uhr von einer Überwachungskamera des Ministeriums aufgezeichnet wurde, nahm niemand Notiz davon. Serow war in der maroden Haftanstalt als Hausarbeiter beschäftigt und hatte somit Zugang zur Werkzeugkammer.

Auf der gestern nachmittag einberufenen Pressekonferenz von Polizei und Landesjustizministerium in Potsdam glaubte man sich in einem Seminar zum Thema „Gefängnisflucht, leichtgemacht“. Nach Angaben des brandenburgischen Justizministers Hans Otto Bräutigam (parteilos) war der Gefangene am Samstag um 17.45 Uhr eingeschlossen worden. Nach dem Schichtwechsel um 18 Uhr wurde der Verschluß kontrolliert. Weil Serow am Sonntag kein Frühstück haben wollte – er wollte ausschlafen –, sei seine Zelle am Sonntag morgen nicht kontrolliert worden. Erst beim Verteilen des Mittagessens wurde das Verschwinden des Gefangenen bemerkt.

Auf der Flucht aus der Anstalt stieß der 38jährige zudem nur auf offene Türen. Auf einem Gefängnisgang passierte er zwei nicht verschlossene Gittertüren. „Das entspricht der Praxis“, so Bräutigam. Wenn das Gefängnispersonal die Türen schließe, sei das mit einem erheblichen Geräuschpegel verbunden, woraus die Gefangenen schließen könnten, wo sich der diensthabende Beamte befindet. Über eine Dachluke konnte sich der Gefangene schließlich mit Bettlaken abseilen. Den ungehinderten Zugang zur Luke konnte der Justizminister nicht erklären. Statt dessen wartete Bräutigam mit einem weiteren pikanten Detail auf: Serow sei einmal während seiner Tätigkeit als Hausarbeiter, die ihm anstandslos zugebilligt worden war, „auffällig“ geworden, weil er sich an eben jener Dachluke zu schaffen gemacht hatte. Eine Auffälligkeit, die jedoch keinerlei Konsequenzen hatte.

„Das ist ein handfester Justizskandal, der in dieser Form bundesweit einmalig sein dürfte“, hieß es gestern in einer Stellungnahme des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Der BDK forderte personelle Konsequenzen. Bräutigam hatte gestern persönlich die Untersuchung der Fluchtumstände angeordnet. Seit Sonntag mittag läuft eine europaweite Großfahndung.

Der aus Moskau stammende Serow stand bereits einmal in Deutschland vor Gericht: Wegen mehrfachen Raubes war er zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Vor Ablauf der Strafe wurde er jedoch nach Rußland abgeschoben. Im August vergangenen Jahres war er mit einem Paß auf den Geburtsnamen seiner Frau nach Deutschland zurückgekehrt. Im November sollte der Prozeß gegen Serow und seinen mutmaßlichen Komplizen, den 26jährigen Wjatscheslaw Orlow, beginnen, der in Brandenburg-Havel einsitzt. Beide hatten die Tat gestanden.

Außerdem sind die beiden mutmaßlichen Entführer in Berlin wegen der Verschleppung eines russischen Computerhändlers angeklagt, der seit Juni vergangenen Jahres verschwunden ist. Wie im Entführungsfall Hintze war eine Million Mark Lösegeld gefordert worden. Diese Tat streiten die beiden Russen jedoch ab.

Der Sohn des verschwundenen Geschäftsmannes hat unterdessen eine Belohnung von 300.000 Mark ausgesetzt. Nach Angaben seines Anwaltes liegen Hinweise vor, daß Serow ein umfangreiches Geständnis zu diesem Fall ablegen wollte. Der Anwalt vermutet Auftraggeber aus „einflußreichsten russischen Kreisen“ hinter der Flucht. Serow sei befreit worden, um ihn umzubringen. Vermutungen, die Serows Anwalt als „absoluten Quatsch“ zurückweist. Barbara Bollwahn de Paez Casanova

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen