Kommentar
: Mehr Demokratie wagen

■ Bundeskanzler Schröder sucht in Moskau nach neuen Wegen

Irgendwann hat Bundeskanzler Gerhard Schröder auch in Moskau die Notwendigkeit der „Kontinuität“ betont und damit ein Wort benutzt, das inzwischen selbst hochrangige Mitarbeiter der Regierung im Zusammenhang mit deutscher Außenpolitik nicht mehr hören können.

Beim Antrittsbesuch des neuen Bonner Regierungschefs in Rußland war dieser Begriff allerdings nicht bloß ein anderer Ausdruck für Zaghaftigkeit und Mangel an Phantasie. Denn Schröder hat diesmal tatsächlich um Vertrauen geworben. Und das braucht er, denn die rot-grüne Regierung will im Verhältnis zu Rußland neue Wege gehen. Die ersten Schritte hat sie bereits jetzt getan. Dieser Kurswechsel dokumentierte sich in Zeichen mit symbolischem Gehalt.

Vor laufenden Kameras traf der Kanzler Gesprächspartner aus einem ungewöhnlich breiten politischen Spektrum. Schröders Wille, zu möglichst vielen Gruppen gute Kontakte herzustellen, ist zum einen gewiß der Tatsache geschuldet, daß derzeit niemand vorherzusagen vermag, wer nach dem Ende der Ära Jelzin die Macht in Moskau erringen wird. Zum anderen aber zeigte der deutsche Regierungschef, daß er demokratische Strukturen ins Zentrum seiner Politik rücken will. Das kann auch deshalb unterstellt werden, weil der deutsche Bundeskanzler neben den äußeren, protokollarischen Signalen eine grundsätzliche inhaltliche Botschaft transportiert hat.

Auf Dauer, so Schröder in Moskau, kann Marktwirtschaft nur gemeinsam mit Demokratie funktionieren. Das ist eine unmißverständliche Stellungnahme in einem alten Streit. Sie richtet sich gegen die weitverbreitete Ansicht, wirtschaftlicher Wohlstand sei überhaupt erst die Voraussetzung für demokratische Strukturen. Diese Thema ist nicht nur im Zusammenhang mit Schröders Antrittsbesuch in Moskau von Bedeutung. Es berührt auch die Grundsätze deutscher Entwicklungspolitik. In der Vergangenheit bekamen Länder der Dritten Welt allzuhäufig Unterstützung, ohne daß sich die Industrienationen für deren innere Verfassung besonders interessiert hätten. Wenn die Position, die Gerhard Schröder in Moskau bezogen hat, Ausdruck einer Standortbestimmung deutscher Außenpolitik ist, dann dürfte die rot-grüne Bundesregierung schon bald auch andernorts neue Akzente setzen. Einfach wird das allerdings nicht. Bettina Gaus