: Sieben Tore und Saalschlachten
■ Die Geschichte des Arbeiter Turn- und Sportbundes in Deutschland und in Hamburg
Gern erzählen dem Linksmilieu verpflichtete St.Pauli-Fans, ihr Verein sei ein traditioneller Arbeiterklub. Auch Schalke 04 gilt vielen als Prototyp balltretenden Proletariats. Beides ist weit gefehlt: Die berühmte Mannschaft mit dem Schalker Kreisel um Kuzorra und Szepan spielte ebenso wie der FC St.Pauli für den Dachverband der Bürgerlichen, den DFB, und nicht für den Arbeiter Turn- und Sportbund (ATSB).
In Wirklichkeit waren die Arbeitersportvereine eine Antwort auf die unerträglichen Lebensbedingungen der Arbeiter im letzten Jahrhundert. Die Keimzellen des Arbeiter-Turnerbundes (ATB), der 1919 in ATSB umbenannt wurde, liegen im linken Flügel der bürgerlichen Sportbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts.
Seine Entstehung ist eng mit dem Namen Bismarck verbunden. Der deutsche Reichskanzler belegte die proletarisch-politischen Massenbewegungen, die ihm langsam unheimlich vorkamen, 1878 mit einem Verbot, den sogenannten Sozialistengesetzen. Doch anstatt die Sozialdemokraten zu schwächen, traten diese nach deren Aufhebung 1890, durch die Untergrundarbeit zusammengeschweißt, wiedererstarkt auf die politische Bühne. Die proletarischen Sportler gründeten eigene Sportvereine, und Pfingsten 1893 wurde ein eigener Verband eingerichtet unter dem Motto: „Wir sind Angehörige dieser großen Klasse, die nach Befreiung ringt.“
Sport Nummer eins bei den Arbeitern war zunächst Turnen. Die aus England importierte Kickerei um die Lederpille galt den organisierten Proletariern als roh, gefühllos und unzivilisiert, ein Sport, der Konkurrenzkampf und Egoismus fördere. Zur Öffnung dem bei den jungen Sportlern beliebten Spieles gegenüber führte der Beitritt des DFB 1911 in den paramilitärischen Jungdeutschlandbund, von dem die Arbeiterjugend ferngehalten wurde. Zu diesem Zeitpunkt zählte der ATB über 150.000 Mitglieder.
Dann kam der Erste Weltkrieg. Er war eine Zerreißprobe für die organisierten Arbeiter. Vom klassenübergreifenden Patriotismus getrieben, zogen die Proletarier in den Krieg. Es waren überwiegend die turnenden Arbeiter, die Fußballer blieben, weil meist zu jung, daheim. So kam es zum Durchbruch. Als die geschlagenen Soldaten 1918 aus dem Krieg zurückkamen, hatten die Jungen Turngeräte gegen Fußbälle getauscht, der englische Sport hatte sich durchgesetzt.
Es folgte ein Jahrzehnt der Blüte für den Arbeiterfußball. Ende der zwanziger Jahre waren die Gräben zwischen sozialdemokratischen Arbeitersportlern und Kommunisten jedoch unüberbrückbar geworden. Die Konsequenz war der Ausschluß von rund 33.000 KPD-Anhängern aus dem von SPD-Funktionären geführten ATSB.
So kam es, daß 1931 zwei deutsche Arbeiterfußballverbände Deutsche Meister stellten. Für die „kommunistische Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit“, kurz Rotsport, gewann der Dresdner SC, für den größeren Verband, für den ATSB, der legendäre Hamburger Verein Lorbeer 06, zweimal Deutscher Meister eines Verbandes mit 8000 Mannschaften und über 100.000 Spielern. Kein geringerer als „Vadder“ Erwin Seeler, der wohl bekannteste Arbeiterfußballer, stand in den Reihen der Hanseaten. Als dieser 1932 zum bürgerlichen Klub SC Victoria wechselte, wurde er von der SPD öffentlich gebrandmarkt. „... Wir sind eine Massenbewegung und keine Kanonenzuchtanstalt“, titelte das Parteiorgan „Hamburger Echo“.
Eine andere Marotte war es, die Spieler in den Presseberichten nicht beim Namen zu nennen, Starkult sollte vermieden werden. Als Seeler bei der Arbeiterolympiade in Wien einmal sieben Tore vor 60.000 Zuschauern gegen Ungarn schoß und sich auf Schultern von den Fans tragen ließ, erhielt er daheim einen Rüffel.
Hamburg war neben Leipzig, Dresden und Berlin eine der Hochburgen des Arbeitersports. Zahlreiche noch bestehende Fußballklubs, wie Komet Blankenese, Bergedorf 85, Grün-Weiß Eimsbüttel, VfL 93 (Fusion der Arbeitervereine VfL 05 und Hamburg 93), waren im ATSB. Vereine aus Altona, wie Ottensen 93 und der Altonaer TSV, waren ebenso dabei, wie der in Schleswig-Holstein ansässige und heutige Oberligist Rasensport Elmshorn. Der Platz von Victoria an der Hoheluft bildete die Bühne für die großen internationalen Spiele. 1927 erlebten 20.000 Zuschauer den 4:1-Sieg der Sowjetunion gegen eine ATSB-Auswahl. Auch in Hamburg kam es zu Turbulenzen zwischen SPD/ATSB und KPD/Rotsport. Bei einer Saalschlacht im Hamburger Gewerkschaftshaus kam 1930 ein 16jähriger Lehrling ums Leben. Und als eine „wilde“ Lorbeerelf gegen Rotsportler kickte, schloß der Verband die Spieler kurzerhand aus.
Geschwächt durch die Spaltung, wie auf politischer Ebene, mußten die Arbeitersportler die „Machtergreifung“ der Nazis und somit ihr jähes Ende erleben. Im Mai 1933 waren der ATSB und seine 6.886 Vereine mit rund einer Million Mitgliedern aufgelöst. Vier Jahrzehnte Arbeitersport gingen unrühmlich zu Ende. Nach der Befreiung durch die Alliierten 1945 wurde ehemaligen Funktionären des ATSB und von Rotsport der Wiederaufbau des Sports in Deutschland mitübertragen, sie verzichteten auf die Reaktivierung des Arbeitersports zugunsten eines Einheitsverbandes. Auch in Hamburg beim Hamburger Sportbund und beim Hamburger Fußball-Verband übernahmen in die Jahre gekommene Arbeitersportler hohe Ämter.
1993, zum hundertsten Geburtstag der nicht mehr existenten Vereinigung, würdigte ein Symposium hochkarätiger Wissenschaftler und Politiker noch einmal das ausgestoßene Waisenkind deutscher Geschichte. „Der Arbeitersport hat die größte Integrationsleistung vollbracht, indem sie das Industrieproletariat in eine sich wandelnde privatkapitalistische Industriegesellschaft eingliederte“, huldigte der Historiker Dieter Langewiesche der Kulturbewegung und empfahl sogar den Friedensnobelpreis. Daß sie kurz zuvor wiedergegründet wurde ist, nett gemeint, wird dem geschichtlichen Ernst aber nicht gerecht. Martin Sonnleitner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen