piwik no script img

Bitte nicht an meiner Schule

■ Die Schulen in Kreuzberg und Neukölln haben mit dem zu kämpfen, wofür sie einst standen: dem multikulturellen Unterricht. Immer mehr Eltern - auch linke - melden ihre Kinder in anderen Bezirken an

Als Andreas H. und Tina S. nach Kreuzberg zogen, wußten sie, was sie wollten: in netter, politisch korrekter Umgebung eine kleine, liberale Familie gründen. Damals standen beide kurz vor dem Ende ihres Studiums; seit wenigen Jahren arbeiten sie nun als Anwälte.

Nun quälen sie, ausgerechnet wegen der politisch korrekten Umgebung, große Sorgen. Ihr Sohn soll im kommenden Herbst eingeschult werden – in Kreuzberg, auf einer Schule, von der man sich unter Nachbarn erzählt, daß über die Hälfte der Kinder ausländische – meist türkische – Eltern hat. Und die jungen Eltern – die selbstredend nie etwas gegen Ausländer hatten – fürchten, deren Anwesenheit kollidiere mit einer guten Schulbildung.

Inzwischen schwärmt Vater Andreas H. von seiner eigenen humanistischen Bildung, über die er noch vor fünf Jahren kein gutes Wort verloren hat. Ein möglicher Ausweg für die geplagten Eltern: Die beiden überlegen, ihr Kind bei einer guten Freundin ein paar Kilometer weiter polizeilich zu melden, damit es dort auf die Schule gehen kann.

Daß Eltern, und zwar auch die linksliberalen, ihre Kinder gerne bei der Oma in Steglitz oder zumindest ein paar Straßen weiter registrieren lassen, um es auf eine vermeintlich bessere Schule zu schicken, ist in Bezirken wie Kreuzberg und Neukölln, in denen mancherorts über die Hälfte der Anwohner nichtdeutscher Herkunft ist, seit Jahren bekannt.

Die ersten „verschwinden“ auf dem Weg von der Kita in die Grundschule; der größere Teil vor dem Antritt der Oberschullaufbahn. Nach Angaben des Kreuzberger Bezirkselternausschusses (BEA) gingen 400 Schüler in diesem Jahr zwischen Grund- und Oberschule verloren. „Früher gingen die Leute vor allem aus dem ärmeren SO 36 nach Kreuberg 61“, sagt Heidrun Schwarz vom BEA, „aber inzwischen wandern viele gleich in andere Bezirke ab, darunter übrigens auch die wohlhabenderen ausländischen Eltern.“

Da plagt so manch linksliberalen Elternteil das schlechte Gewissen: „Mit einem ganz unguten Gefühl“, sagt eine Mutter, tue sie das, was sie anderen immer vorwerfen würde – sie entzieht sich der multikulturellen Gesellschaft. „Wenn Eltern beim Elternabend sehen, daß da zwei Drittel türkische Eltern sitzen, bekommen sie es mit der Angst zu tun. Dann soll das eigene Kind doch nicht als Modellprojekt für Multikulti zur Verfügung stehen“, sagt Neuköllns Bildungsstadtrat Michael Wendt (Bündnisgrüne).

Die Angst gründet sich vor allem auf die Vermutung, das Sprachniveau sei zu niedrig, wenn viele ausländische Kinder in der Klasse sitzen, das eigene Kind werde zuwenig gefordert. Lehrer mußten feststellen, daß es eine „magische Grenze“ gibt, ab der Eltern sich der multikulturellen Schulbildung verweigern. „Bei einem Anteil von 50 Prozent droht es zu kippen“, sagt Inge Hirschmann, Schulleiterin der Kreuzberger Zille-Grundschule, „wenn dann noch zwei Deutsche wegziehen, gehen die anderen auch.“

„Die Deutschen nicht zu verlieren“ ist allerdings ein Problem – angesichts anhaltender Abwanderung ins Umland und Katastrophenmeldungen über die Zustände an Schulen in sozial schwachen Bezirken. „Manchmal sind wir einfach nur machtlos“, sagt Heidrun Schwarz, die als Elternvertreterin einen endlosen Kampf gegen den chronischen Geldmangel an Berlins Schulen führt: „In manche Schulen regnet es rein. Teilungsstunden werden gestrichen, Förderstunden fallen weg.“ „Irgendwann“, fürchtet Schwarz, „bleiben nur die bildungspolitisch Uninteressierten übrig.“

Daß die Deutschkenntnisse ausländischer Kinder bei der Einschulung häufig zu wünschen übriglassen, sei vermeidbar. „Wenn die Kinder in der Kita waren, sprechen sie prima deutsch“, sagt Gaby Kollmann, Elternvertreterin in Kreuzberg. Viele türkische Kinder gehen aber nicht in die Kita – und zwar längst nicht nur, weil das nicht ihrer Tradition entspricht. „Das Geld fehlt“, sagt die Leiterin einer Kita, „seit die Plätze im vergangenen Jahr teurer wurden, werden die Kinder reihenweise abgemeldet.“ Die Kitaleiterin spricht von einer teils „dramatischen Armut“ in ihrem Einzugsgebiet. „Wie soll denn eine fünfköpfige Familie mit einem Nettoeinkommen von 2.000 Mark 260 Mark für die Betreuung von drei Kindern aufbringen?“

Doch es gibt auch Eltern, die zu der Entscheidung stehen, ihre Kinder auf eine Kreuzberger Schule zu schicken. „Kann ich mein Kind schützen, wenn ich es nach Zehlendorf schicke?“ fragt der Vater Burkhard Entrop. „Mein Sohn muß doch in seinem Kiez auch aufwachsen können.“ Elternvertreterin Kollmann argumentiert, daß oft völlig unklar sei, aus welchen Gründen einer Schule ein guter oder schlechter Ruf vorauseile. „Letztlich weiß man wenig Konkretes. Ich würde jedem raten, sich eine Schule einfach mal anzugucken.“

Nach Kollmanns Ansicht muß ein hoher Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunft nicht zwangsläufig ein Problem sein. An der Schule ihrer Tochter habe jedes zweite Kind ausländische Eltern, erzählt sie. Fünf Kinder hätten bei der Einschulung kaum deutsch gesprochen. „Daraufhin haben sich die Lehrer zusammengesetzt und einen Sprachkurs auf die Beine gestellt. Inzwischen läuft alles prima.“ Letztlich seien persönliches Engagement und intelligente Zusatzangebote entscheidend.

Förderangebote hat Kreuzberg reichlich zu bieten: Kein anderer Bezirk kann so viele Modellprojekte und Reformschulen vorweisen. Alle Grundschulen haben Integrationsklassen, in denen Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam unterrichtet werden. Sechs Grundschulen nehmen Kinder schon in der 0. Klasse auf. Es gibt eine Montessori-Schule, eine Waldorfschule, eine deutsch-türkische Europaschule, eine islamische Grundschule.

Auch Kreuzbergs Bildungsstadträtin Hannelore May hält nicht viel davon, die Qualität der Schulen mit der Einführung von Quoten zu regeln – nicht nur, weil ihr noch nie jemand erklärt hat, wo sie die deutschen Kinder hernehmen soll. May: „Schule muß für die dasein, die hier wohnen.“ Sie setzt auf Integration und kleine Schritte: An sechs Grundschulen in Kreuzberg werden Türken inzwischen zweisprachig alphabetisiert. An einer Schule werden Erziehungs- und Deutschkurse für Mütter angeboten. So können sie ihren Kindern später bei den Hausaufgaben helfen.

Letztlich „ist und bleibt das Klima entscheidend“, sagt auch Rolf Hänisch. Aus eigener Erfahrung als gewählter Elternvertreter der Glasbrenner-Schule weiß er auch, daß „viele Eltern es bei uns gar nicht so schlecht finden, wenn ihre Kinder erst einmal da sind“. Er bedauert vor allem, daß türkische Eltern sehr zurückhaltend seien, wenn es darum gehe, besondere Förderung für ihre Kinder zu fordern. Andererseits weiß er aber auch, daß er selbst ein Vertreter eines typisch deutschen Phänomens ist: „Wir sind ja weltweit berühmt dafür, unseren Nachwuchs zu betüdeln.“ Jeannette Goddar

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen