: Lauter Falschwelt
In seinem Debütroman schilderte William Gaddis 1955 die Boheme New Yorks als warenförmig gewordenes Elend. Jetzt gibt es „The Recognition“ endlich auf deutsch ■ Von Harald Fricke
Etwas ist verlorengegangen auf der großen Überfahrt. Als 1620 die Pilgerväter England verließen, schufen sie bei ihrer Ankunft in Massachussetts eine eigene Verfassung, die gegen jede Staatskirche das Recht auf Religionsfreiheit festschrieb. Damit war ein erster Bruch zwischen der Alten und der Neuen Welt markiert, lange vor dem bekannteren Datum: 1776 folgte mit der Unabhängigkeitserklärung auch die politische Loslösung und Gründung der USA. Daß es da um wirtschaftliche Autonomie ging, ist wiederum Glaubenssache – schließlich hatte sich in Amerika der Kalvinismus durchgesetzt, zu dessen Lehre vom materiellen Wohlstand als verwirklichtem Reich Gottes auf Erden die kolonialen Fesseln des englischen Königshauses nicht recht passen wollten.
Andererseits war die machtvolle Verbindung von weltlichem Erfolg und religiöser Erfüllung mehr als bloß Regelwerk im Geiste des Kapitalismus: Der Pakt schließt neben der Geburt einer Nation auch den Ursprung der Kulturindustrie mit ein. Entsprechend verschlungen sind die Pfade, auf denen sich William Gaddis' Romandebüt „The Recognitions“ von 1955 bewegt, das nun unter dem Titel „Die Fälschung der Welt“ auf deutsch vorliegt. Immerhin ist es der Versuch, die Apotheose, für die das Bild vom amerikanischen Traum ja ganz offenbar einsteht, als unaufhaltsamen Weg in die Apokalypse umzudeuten.
Die Größe der Aufgabe spiegelt sich im Umfang wider. Auf 956 Seiten (die deutsche Ausgabe zählt über 1.200!) schildert der damals 33jährige Schriftsteller in Anlehnung an Dantes „Inferno“ New Yorks Kunstwelt als Fegefeuer der modernen Lebensverhältnisse in den ausgehenden 40er Jahren. Am Beispiel des jungen Malers Wyatt, der alte Meister kopieren kann, aber selbst nicht zu Originalen fähig ist, zeigt Gaddis den endgültigen Abschied von romantischer Ästhetik und Geniekult – allen Pollocks und Action Painters zum Trotz. Gefallen hat dieser Coup nur wenigen, Kritiker machten „Die Fälschung“ wegen der komplexen Dialogstruktur als wirre Materialschau nieder oder nahmen die unzähligen Querverweise als prätentiösen Bildungseifer übel. Daß sich das Buch ohnehin nicht verkaufen würde, hatte Gaddis bereits in die Story mit eingebaut: Auf den letzten Seiten der „Fälschung“ darf sich ein namenloser Kritiker über die unsägliche Schwarte ärgern, die ihn sogar 25 Dollar gekostet hat. Nach diesem Flop verschwand Gaddis 20 lange Jahre aus dem Literaturbetrieb und schrieb Scripts für Armee- Lehrfilme oder Gebrauchsanweisungen für Arzneimittel. Erst 1975 erhielt er für seinen zweiten Roman „JR“ den American Book Award. Seither gilt er neben Thomas Pynchon als Vorbild postmoderner Literatur, während sein Sarkasmus mit dem schwarzen Humor Tom Wolfes verglichen wird.
Tatsächlich nimmt Gaddis die Unbilden einer Kultur in Warenform mit einiger Ironie. Die Leute, die seinen Roman mit Streit, Sex und Suff bevölkern, sind zwar vom Teufel des eitlen Konsums besessen, doch daher auch vor allzu naiven Ideen gewappnet. Nihil est, dafür aber reichlich. Statt einem plumpen Pessimismus anheimzufallen, der in Zeiten von Atombombe und Mikrowelle selbst kaum mehr als ein Klischee verkörpert, richten sich die Figuren ähnlich wie F. Scott Fitzgeralds Helden der 20er Jahre recht elegant im Falschen ein. Einige hundert Seiten lang folgt Gaddis der New Yorker „Village“-Szene von Ausstellungen in die Kneipen und auf Drag-Queen-Parties. Geldgeile Galeristen beuten desillusionierte Künstler aus, die ihrerseits leidlich begabten Literaten vorwerfen, nur Plagiate zu verfassen. Man feiert gerahmte Hemden als neuesten Schrei auf dem Ready- made-Markt und wünscht sich still die Kunst der Renaissance zurück. Darin nimmt die „Fälschung“ vorweg, was zehn Jahre später mit Pop-art als Fetisch und Ikone der Warenwelt losgetreten wurde.
Ohne Schicksal keine Freiheit
Doch die Begeisterung für reine Oberflächen kann nur mit Mühe die tief gefurchten Neurosen und Bedrängnisse verbergen. Auch darin ist Gaddis unnachgiebig. Grausam offenbart sich seinen Protagonisten mit der Zeit, daß es keine Originale, sondern nur noch Kopien gibt; daß sämtliche Erfahrungen bereits gemacht sind, und daß jede Erkenntnis über das eigene Leben bloß auf dem Wiedererkennen – so der englische Titel – von älteren Konflikten beruht. Die Prädestination, einst Sinnbild des religiösen Aufbruchs und der kulturellen Emanzipation, wird zum allesergreifenden Dilemma: Ohne Schicksal keine Freiheit. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, so ahnt man bei Gaddis, existiert nicht.
Ein solches Unternehmen, das sich an Weltbildern abarbeiten will, muß zwangsläufig monströs ausfallen. Gaddis ist nicht kleinlich, wenn er dem Roman als „erste Drehung der Schraube“ ein Zitat aus „Faust II“ voranstellt – auf Mephistopheles' Frage, was hier geschieht, antwortet Wagner: „Es wird ein Mensch gemacht.“ Am Anfang war der Homunkulus, das künstliche Wesen, ein Konstrukt. In dieser nachbildenden Schöpfung liegt das Bauprinzip der „Fälschung“ mitbegründet. Gaddis fügt seiner Geschichte über das Leben der Boheme Werbeslogans aus dem Radio ebenso bei wie kurze Verweise oder Textpassagen quer durch die Religions-, Philosophie-, Kunst- und Literaturgeschichte. Mehr noch: Jeder Fortgang des Geschehens geht von solchen Anspielungen aus, da die Figuren in Schleifen und Wiederholungen agieren, die ihnen aus den floskelhaften Überresten vergangener Geschichte zur Verfügung stehen. Wyatt will exakt das Leben der flämischen Meister führen, um die von ihm gefälschten Gemälde inwendig kopieren zu können. Der Komponist Stanley glaubt, daß wahre Musik sich nur im Geiste Johann Sebastian Bachs (und damit allein Gott zu Ehren) schreiben
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
läßt, was bei ihm in Mystizismus mündet. Und der verwirrte Mr. Feddle geht gleich soweit, daß er die Bücher seiner Vorbilder mit eigenem Namen signiert – ein verzweifelter Wunsch, sich als Schriftsteller in die Erbfolge der Literatur einzuschreiben.
Aus dieser mißlichen Lage bleibt für die Figuren im Roman nur der Rückzug in die Alte Welt. Wie Wallfahrer reist man zur Papstaudienz nach Rom oder schaut sich im Prado von Madrid nach kulturellen Wurzeln um. Allein, es nützt nichts: Überall liegen Souvenirs, d.h. wieder nur Reproduktionen für die Touristen aus Übersee bereit. Umgekehrt stellt sich das antike Rom für einige der Reisenden kaum anders als eine Kulisse für Bibelverfilmungen dar. Auch Europa ist lediglich die Projektionsfläche einer Gesellschaft des Spektakels, die nicht bloß Waren, sondern ganz allgemein Wahrnehmung massenhaft produziert. Auf der Suche nach Identität verbeugt man sich kurz vor den Opfern des Kulturalismus und dreht sich dabei schon wieder im Kreis.
Original, Fälschung und Schizophrenie
Das Scheitern am Original ergibt sich indes aus der abweichenden Interpretation. Schließlich sind auch Fälschungen selbst nur an individuellen Fehlern nachweisbar, die sie vom ursprünglichen Bild unterscheiden. Die Doppelsinnigkeit dieser Differenz führt Gaddis in Perfektion vor: Als Wyatt von dem Kunstkritiker Basil Valentine erfährt, daß er von Kopien abgemalt hat, verbrennt der Getäuschte in seiner Wut einen echten Hieronymus Bosch, weil er ihn mit der eigenen Fälschung verwechselt. Damit löscht er zuletzt das Original als Anhaltspunkt aus, an dem er sich doch orientieren wollte. Indem er das Vorbild zerstört, verliert auch die Kopie den schwachen Widerschein der Identität. Den Maler stürzt der Verlust der Mitte in die Schizophrenie, völlig irre schabt er später in einem spanischen Kloster Farben von Bildern El Grecos ab, um darunter das Original freizulegen. Daß dieser unglückliche Werdegang noch auf einer wahren Begebenheit beruht, gehört zu den Finessen von Gaddis: Es war Hugo van der Goes, ein anderer flämischer Maler, den Wyatt im Roman verehrt, der wegen seiner labilen Psyche 1482 Zuflucht in einem Kloster suchte und von den Mönchen mit Restaurierungsarbeiten an Heiligenbildern betraut wurde.
Die beängstigende Dichte, mit der Gaddis Symbolwelten und bloße Tatsachenbeschreibungen engführt, ist nicht immer zu durchschauen. Mitunter liest sich seine „Fälschung“ wie die Quadratur des „Ulysses“. Weite Strecken irrt man ein wenig hilflos durch die Ansammlung aus Namen von Religionsstiftern oder Märtyrern, deren Wirken schon im nächsten Moment die Geschicke aller Beteiligten bestimmen kann. Im vorletzten Kapitel etwa werden mehrere Figuren von einem Juckreiz geplagt, weil sie sich in dem spanischen Kloster Ungeziefer geholt haben. Der Überlieferung nach hilft dagegen die Fürbitte bei Maria Magdalena. Wenige Seiten zuvor taucht als Ebenbild dieser Heiligen die vom Heroin zum Katholizismus konvertierte Esme in Rom auf. Als die Flöhe zur Plage werden, hat sie sich umgebracht.
Stets nutzt Gaddis das Vokabular des Universalismus: Lateinische Bibelsprüche treffen auf wissenschaftliche Abhandlungen des 17. Jahrhunderts, vermengen sich mit den Anweisungen der Alchemisten und fügen sich schließlich in ein Sprachenwirrwarr, das neben Deutsch, Französisch, Spanisch oder Italienisch selbst ungarische Phrasen original zitiert. Alles scheint auf Wyatts Bekenntnis hinauszulaufen, daß man „Gold nur aus Gold herstellen kann“. Die von Marcus Ingendaay ausgezeichnet ins Deutsche gebrachte Ausgabe kommt deshalb mit einem knapp 250 Seiten starken Apparat aus Fußnoten und Anmerkungen daher, in denen der amerikanische Literaturwissenschaftler Steven Moore sorgsam „die Fakten hinter der Fälschung“ auflistet.
Man hat Gaddis für sein Verfahren, in einem Pastiche aus Referenzen, Spielmarken und Versatzstücken der Kulturgeschichte der Menschheit zu verschwinden, oft als Beleg für den „Tod des Autors“ genommen. Die schriftstellerische Praxis hat unter dieser kumpelhaften Umarmung durch die Theorie dennoch nicht gelitten. Im Spiegel- Interview vor zwei Jahren antwortete Gaddis auf die Frage nach persönlichen Erfahrungen, die er in den Helden seines Romans „JR“ hätte einfließen lassen, recht verschmitzt: „Anfangs war er mir sympathisch, doch dann entwickelte er sich zu einem Charakter, der dauernd herumjammert. Er ging mir auf die Nerven!“ Ähnlich zielstrebig schreibt Gaddis in einem Briefwechsel mit dem damaligen Lektor über „Die Fälschung“: „I am Wyatt & Anselm & Otto & Stanley; and I have my Basil Valentine moments“. Alle sind ein bißchen Gaddis, aber keiner ist echt.
William Gaddis: „Die Fälschung der Welt“. Deutsch von Marcus Ingendaay. Verlag 2001, Hamburg 1998, 1.240 Seiten, 78 DM
Steven Moore: „Die Fakten hinter der Fälschung“. Verlag 2001, 33 DM. Beide Bücher für 99 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen