: Strahlende Liste bis 2000
EU einigt sich auf Lebensmittelbestrahlung: Sie wird in allen Ländern erlaubt. Umfassende Kennzeichnung schmälert allerdings die Chancen der Industrie ■ Aus Brüssel Peter Sennekamp
Die Europäische Union hat sich geeinigt, welche Regeln für die Bestrahlung von Lebensmitteln gelten sollen. Der jetzt getroffene Kompromiß sieht vor, die radioaktive Gamma- und Elektronenbestrahlung von Obst, Gemüse, Getreide, Fleisch, Fisch und Eiprodukten, die in Frankreich, Belgien, Italien, Großbritannien und den Niederlanden zum Teil bereits angewandt wird, dort dauerhaft zuzulassen.
Ebenso legt die EU-Kommission spätestens bis Ende des Jahres 2000 eine Gesamtliste zur Bestrahlung zugelassener Lebensmittel vor, die anschließend in allen EU- Ländern gelten soll – allerdings erst nach erneuter Zustimmung des Europaparlaments zu dieser Liste. Damit würden europaweit die gleichen Lebensmittel zum Bestrahlen zugelassen und der EU- weite Handel mit solchen Produkten voraussichtlich massiv ansteigen. So nahm zwischen 1987 und 1995 die weltweite Vermarktung bestrahlter Güter um das Achtfache zu, wie die Internationale Atombehörde (IAEO) in Wien berechnete.
Zehn Jahre lagen die Forderungen nach europaweiter Bestrahlung von Lebensmitteln beim Europäischen Ministerrat und beim EU-Parlament auf Eis. Zu konträr waren die Positionen. Doch am Mittwoch abend im Vermittlungsausschuß zwischen der EU-Kommission und dem Parlament endete dieser fraktions- und länderübergreifende Widerstand mit einer Verhandlungslösung. Wie Jean-François Bazin, der Sprecher der ständigen Vertretung Frankreichs, auf Anfrage mitteilte, werde der Ministerrat noch in diesem Jahr das Ergebnis beschließen.
In spätestens 18 Monaten, so entschieden die EU-Verhandlungsführer weiter, müssen in Europa alle bestrahlten Lebensmittel mit einem deutlichen Kennzeichen versehen sein, sowohl wenn bestrahlte Gewürze auf der Tiefkühlpizza zu finden sind, als auch wenn behandelte, lose Kartoffeln oder Zwiebeln am Gemüsestand verkauft werden. Ebenso wurde die durchschnittliche Höchstdosis von 10 Kilo-Gray festgelegt, mit der zukünftig bestrahlt werden darf. Bereits hierüber dürfte der Streit zukünftig losbrechen. Denn die festgelegte „durchschnittliche Höchstdosis“ ist zu vage, eine Belastung der Lebensmittel in den heutigen Bestrahlungsanlagen auch weit über der Höchstdosis von 10 Kilo- Gray möglich, wie der Direktor der Bundesanstalt für Ernährung, Dieter Ehlermann, erklärte.
Mit Schreckensmeldungen von jährlich Hunderten Toten durch Salmonellenvergiftungen, mit Lobbying für Vorteile bei der Massentierhaltung, der industriellen Lebensmittelproduktion und der langen Haltbarkeit von frischem Obst und Gemüse hatte die Industrie intensiv versucht, das Parlament und den Europäischen Ministerrat für uneingeschränktes Bestrahlen zu gewinnen. Doch als zäh erwiesen sich ausgerechnet die deutschen Vertreter: „Die Bundesregierung vertritt nach wie vor gegenüber der Bestrahlung von Lebensmitteln eine restriktive Haltung“, ließ etwa der ehemalige Gesundheitsminister Horst Seehofer den Europäischen Ministerrat noch im Juni wissen. Auch der Sprecher des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz in Berlin, Jürgen Kundtke, äußerte anläßlich des jetzigen EU-Kompromisses Zweifel am Nutzen des Bestrahlens: „Bessere Hygienestandards sind möglich und für uns vordringlich, mit der Strahlenkanone können hygienische Mängel dagegen kaschiert werden“, sagte er gegenüber der taz.
Die seit neun Jahren mit der Bestrahlungsrichtlinie befaßte Abgeordnete Undine von Blottnitz (Grüne), bewertet die jetzige Lösung trotzdem als „tragfähig“, weil sie „seit der ersten völlig unzulänglichen Kommissionsvorlage von 1988 inzwischen die Kennzeichnung bestrahlter Lebensmittel und den Einfluß des Parlaments auf die Lebensmittelliste erstritten“ habe.
Der ehemalige deutsche Verhandlungsführer bei der EU, Siebenpfeiffer, vermutet sogar, daß „die Ausweitung der Lebensmittelliste für mehr Produkte unwahrscheinlich“ sei, weil es darüber im Ministerrat auch zukünftig keine Einigung geben könnte. Als Bestrahlungsbefürworter erklärte Dieter Ehlermann von der Bundesforschungsanstalt für Ernährung, das Verhandlungsergebnis sei aus der Sicht des Verbraucherschutzes „sehr weitgehend, die Industrie wird die Bestrahlung darum eher seltener anwenden“. Denn sie habe Angst vor Negativreaktionen der Kunden vor als „bestrahlt“ gekennzeichneten Produkten. Ehlermann kritisierte die ungleiche Behandlung gegenüber anderen Konservierungsmethoden. Während zukünftig jedes bestrahlte Gewürzblatt auf der Verpackung stehen müsse, gelte die gleiche Transparenz etwa nicht bei ozonschädlichem Begasen von Kakao, so der BfE-Direktor. „Oder haben Sie das je auf einer Schokoladentafel gelesen?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen