: Auf halbem Wege zu einer lebenswerten Stadt
■ Regierungsunabhängige Organisationen stellen Handbuch zur Umsetzung der Lokalen Agenda 21 vor: Die erste umwelt- und entwicklungspolitische Bilanz Berlins fällt ambivalent aus
Fasziniert blickt ganz Deutschland auf den Bauboom in Berlin. Die Hauptstadt baut ihr Mini- Manhattan am Potsdamer Platz und gräbt die halbe Innenstadt für die neue Regierung um. Die Kehrseite der Bauwut bleibt meist unbemerkt: 1994 fielen in Berlin 12,2 Millionen Bauabfälle an, berechnete das Prognos-Institut. Dieses Jahr werden es etwa 14 Millionen Tonnen sein. In den nächsten Jahren soll das Volumen jährlich um zwei Millionen Tonnen wachsen. Entsorgt werden diese Abfälle von ihren Verursachern größtenteils auf Deponien in Brandenburg. Die Berliner Umweltverwaltung ist jedoch „hoffnungslos überfordert“, die umweltgerechte Trennung und Entsorgung der Abfälle zu kontrollieren.
Die Analyse am Beispiel Bauabfälle läßt sich auf zig weitere Gebiete übertragen, wie jetzt die erste „umwelt- und entwicklungspolitische Bilanz“ Berlins zeigt. 49 regierungsunabhängige Organisationen der Stadt schlossen sich vor zwei Jahren zum Projekt „Berlin 21“ zusammen, um etwas schier Unmögliches umzusetzen: Die Berliner Landespolitik auf alle Felder der Lokalen Agenda 21 hin abzuklopfen. Was tut die Politik dafür, daß auch die nachfolgenden Generationen im 21. Jahrhundert in einer sauberen und sozial intakten Stadt leben können?
Der thematische Rahmen ist im Buch ebenso weit gespannt wie der der Lokalen Agenda. Mit dem sperrigen Begriff lassen sich wenig LeserInnen gewinnen, das wußten auch die Autoren. Selbstironisch zitieren sie eine Straßenumfrage: Was bedeutet Lokale Agenda 21? Die längere Öffnungszeit der Rathäuser, lautete eine Antwort. „Ein Programm, um den Regenwald zu schützen“, eine andere. Von der frustrierenden Resonanz ließen sich die Autoren aber nicht abhalten. Heraus kam ein Handbuch, das zum ersten Mal die Umsetzung der Lokalen Agenda in einer deutschen Großstadt abbildet.
Auf der Konferenz in Rio de Janeiro war 1992 die Lokale Agenda beschlossen worden. Sie verpflichtete die Kommunen weltweit nicht nur, sorgsam mit ihren Ressourcen in der eigenen Stadt zu haushalten, sondern auch die ganze Welt in den Blick zu nehmen, sprich: dafür zu sorgen, daß die Industrieländer nicht weiter auf Kosten der Entwicklungsländer leben.
Es ist kein Geheimnis, daß Kohlendioxid, das die Ozonschicht zerstört, vor allem von den Industrieländern in die Atmosphäre geblasen wird. Berlin kann sogar recht gute Werte aufweisen: Bezogen auf die Einwohner sank der CO2- Ausstoß zwischen 1990 und 1996 um fast zehn Prozent. Zur Selbstzufriedenheit gebe es dennoch keinen Anlaß, analysieren die Autoren. Denn zunehmende Stromimporte und wachsender Autoverkehr konterkarierten diese Bilanz. Ähnlich fällt das Urteil über die ökologieorientierte Wirtschaftsförderung aus: Sie stieg in den vergangenen sechs Jahren von 24,8 Millionen Mark auf 71,7 Millionen Mark. Auf der anderen Seite wird verstärkt in die Gentechnologie investiert, was die Bilanz im Sinne der Agenda wieder verschlechtert. Diese Ambivalenz zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche: bei der Unterstützung für Entwicklungshilfe-Organisationen, der Integration von Ausländern, der Wohnungs- und Verkehrspolitik, der Nahrungsversorgung und bei den Lebensweisen in Berlin. Sechs Jahre nach dem Rio-Gipfel ist die Stadt noch auf halbem Wege zu den Zielen der Lokalen Agenda 21. Ein Verdienst der Autoren ist es, nicht nur zu kritisieren. In jedem Bereich werden Vorschläge zur Verbesserung gemacht, die nicht stets in der Forderung nach mehr Geld enden. Das Buch sollte bald – gelesen – bei jedem Berliner Landespolitiker im Regal stehen. Jutta Wagemann
„Berlin 21 – umwelt- und entwicklungspolitische Bilanz“. LN-Verlag Berlin 1998, 304 Seiten, 21 DM.
Heute abend, 19 Uhr, wird das Buch im Rahmen einer Diskussion mit Wissenschaftlern und Politikern vorgestellt im Karl-Philipp- Moritz-Haus, Oranienstr. 54, Kreuzberg
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