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Der Kampf um einen Platz im Hörsaal

■ In einem gemeinsam verfaßten Buch erinnern Studenten an die Vorkommnisse an der Gießener Universität, die im Herbst letzten Jahres zum größten Studentenstreik seit 1968 führten

Der hintere Buchdeckel genügt eigentlich, um zu verstehen. 250 Namen sind da fein säuberlich aufgelistet. Es ist ein Teil der Studienanfänger, die an der Justus-Liebig- Universität Gießen in die für sie obligate „Einführung in die politische Bildung“ Einlaß begehrten. 250, die den bislang größten Studentenprotest in der Bundesrepublik seit 1968 auslösten. Sie haben sich den Frust über die Studienbedingungen von der Seele geschrieben. Es lohnt, diese Protokolle einer Annäherung an die deutsche Universität anno 1997 nachzulesen. Weil sie den ungefilterten Blick auf die Ursprünge des Studentenprotestes wiedergeben.

„Na gut“, konstatiert da das Erstsemester Thomas Siebert, „daß die Uni nicht immer so viel Spaß macht wie in der Einführungswoche, ist klar, aber muß es denn so beschissen sein??“ Es muß offenbar. Denn die seit Ende der 70er sich an den Unis anstauende Überlast von inzwischen 1,8 Millionen Studis auf der halben Zahl von Studienplätzen beeinträchtigt nicht mehr nur das Lehren und Lernen. „Für mich war klar, daß die Hochschullehre vor unseren Augen zusammenbrach“, notiert Georg Brandt, der Herausgeber des Paperbacks und Lehrbeauftragte jener folgenreichen Politikeinführung. „Studierende wollen studieren, aber die Universität kann diesem Wunsch nicht mehr nachkommen.“ Das gilt für praktisch alle Einführungsveranstaltungen an der Justus-Liebig-Uni und, mit Abstrichen, für den ganzen Westen Deutschlands. Im Osten ist es – bislang noch – besser. Was Brandt nüchtern analysiert, traf die Studis wie ein Schock.

„Dann mache ich Soziologie im nächsten Semester“, erinnert sich Thomas Eckhardt, der Lehrer werden will, an seine Reaktion auf die erste Menschentraube. Dummerweise wäre es ihm in Erziehungswissenschaften nicht anders ergangen. In anderen Seminaren lief es so, daß man die Erstsemester schlicht hinausexpedierte; daß man Mülleimer zu Lostrommeln mit 300 Namenszetteln umfunktionierte; daß der Professor sich weigert, angesichts der Überfüllung das Seminar abzuhalten, daß der Dekan schließlich verkündet, Studienbeginner dürften pauschal keine Scheine machen. Aber erster Widerstand keimt, ziviler Ungehorsam: „Man fragte mich, ob ich nicht zugehört hätte, und ich entgegnete meiner Seminarleiterin, daß ich mich weigere, diesen Raum zu verlassen“, berichtet Antje Steinbrenner. „Sie müßten mich schon raustragen.“

Brandt und seine beiden verzweifelten Kollegen Lehrbeauftragten reagieren anders. Sie unterhalten sich mit den jungen Leuten, die „rücksichtsvoll miteinander umgingen. Sie unterbrachen sich nicht, gingen auf Vorredner ein, und wer nur zuhörte, war wirklich ruhig.“ Die Studis blieben überraschenderweise stundenlang – um darüber zu diskutieren, wie man die Situation ändern könne. Sie erhielten, nach einer „Resolution der 600“, mehr Lehrbeauftragte und motivierten die Zöglinge der Uni Gießen, am 29. Oktober 1997 in den Streik zu treten. „In dieser Vollversammlung wurde mir das erste Mal bewußt, wie viele wir waren und daß wir mit dieser Masse von enttäuschten und über die Lage verärgerten Leuten gar nicht machtlos sein konnten.“

Der Fortgang dieser bislang kaum wahrgenommenen Vorgeschichte des 97er Streiks ist bekannt. Ein Großteil der Universitäten trat in Ausstand. Es kam zu Protesten, die in bundesweite Demonstrationen am 4. Dezember letzten Jahres mit 140.000 TeilnehmerInnen mündeten. An der Uni hat sich seitdem freilich wenig geändert.

Das Buch der 250 hat einen über das Dokumentarische hinausgehenden Wert, weil es viel darüber sagt, wie Hochschullehre und Demokratie aussehen sollten. Die Studierenden berichten davon, wie der überfüllte Lehrbetrieb einen „zum Superegoisten im Kampf um irgendwelche“ Zeugnisse macht. Die Erstsemester setzen dagegen ihr Verlangen nach sozialem Miteinander. Ein Streik funktioniert eben nur, wenn alle sich darüber verständigen. Steht am Anfang „der immer größer werdende Haß auf das ganze System“, bricht sich bei etlichen die Erkenntnis Bahn, daß wir „schließlich in einer Demokratie leben“ – also mitspielen müssen, um etwas zu erreichen. Für eine „Einführung in die Politische Bildung“ nicht die schlechteste Erkenntnis. Christian Füller

Georg Brandt u.a. (Hg.): „Lucky Streik – Ein Kampf um Bildung. Gießener Studierende berichten“. Focus Verlag, Gießen 1998. 254 Seiten, 20DM

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