: Ausstellung statt Jubelfeier
20 Jahre alternative Stadtrundfahrten in Hamburg ■ Von Eberhard Spohd
Am 9. November 1978 veranstaltete der Landesjugendring (LJR) zum 40. Jahrestag der Reichspogromnacht eine Demonstration rund um die Binnenalster, an der 25.000 Hamburger teilnahmen. Im Beiprogramm führte die damals zwei Jahre alte Institution die erste Alternative Stadtrundfahrt über die Zeit des Nationalsozialismus durch die Innenstadt durch. Seit 20 Jahren geht der LJR nun auf Spurensuche durch die Hansestadt.
„Eigentlich kam die Idee von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“, erinnert Lars Lust an die anfänglichen Schwierigkeiten, „die Stadt Hamburg tat sich schwer mit der Aufarbeitung des Dritten Reichs“. So war das KZ Neuengamme noch nicht als Gedenkstätte ausgebaut. Von Anfang an stand das Konzept fest: „Die Rundfahrten werden von zwei Leuten begleitet, einem Stadtführer, der den historischen Überblick gibt und einem Zeitzeugen, der einen persönlichen Eindruck vermittelt.“
Heute stehen neben den beiden Routen durch die Innenstadt und zur Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme Schwerpunktfahrten zu verschiedenen Themen, wie etwa der Swing-Jugend, auf dem Programm. Fast 100.000 TeilnehmerInnen haben in diesen 20 Jahren an den Alternativen Stadtrundfahrten teilgenommen, in mehr als zehn Städten im alten Bundesgebiet haben sich ähnliche Projekte gegründet.
„Zum Jubiläum wollten wir aber keine Jubelfeier veranstalten“, stellt Beate Arlt vom LJR klar. Statt dessen wolle man mit der Ausstellung „Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“ und der begleitenden Veranstaltungsreihe (siehe Kasten) an das Thema Jugend und Nationalsozialismus anknüpfen, denn „die Problematik der Jugend-Konzentrationslager ist nicht sehr bekannt“. Auf 32 Schautafeln zeichnet der Hildesheimer Sozialpädagoge Martin Guse die Geschichte der KZs Moringen (Niedersachsen) und Uckermark (Mark Brandenburg) nach, die speziell für Jugendliche von 10 bis 25 Jahren eingerichtet wurden. „Heute wird wieder nach geschlossener Unterbringung gerufen“, erklärt der Koordinator der Dokumentation seine Motivation, „und wir müssen uns fragen, wie wir mit sogenannten verhaltensauffälligen Jugendlichen umgehen.“
In fünf Teile gegliedert berichtet die Ausstellung über den Alltag der Jugendlichen im Dritten Reich, die Entstehung der Jugend-KZs, ausgewählte Lebenswege von Insassen und ausführlich über den Lageralltag. Der letzte Bereich dokumentiert das Verdrängen des Unrechts. So ist bis heute kaum einer der Häftlinge entschädigt worden.
Der Rat der Stadt Moringen, wo das KZ mitten im Ort lag, stellte erst 1983 offiziell fest, daß es tatsächlich ein solches Lager gegeben hatte – nachdem eine Stadtchronik nicht darauf eingegangen war. Und erst seit 1988 erinnern Einzelgrabsteine auf dem örtlichen Friedhof an die mindestens 55 Todesopfer. Auch wenn deren Leidensweg bis heute von vielen Moringer Bürgern immer noch nicht anerkannt wird.
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