■ Die rot-grüne Regierung ist viel besser als ihr Ruf: Die Legende vom Fehlstart
„Fehlstart!“ hallt es wie Donnerhall durchs Land. Das Machtwort ist gesprochen. Es geht von Mund zu Mund, erntet zustimmendes Nicken, man ist sich so einig wie bei der Beurteilung des Wetters.
Der Regierungswechsel, von vielen lang ersehnt, wird heute fast ausschließlich negativ gesehen. Beispiel Steuerreform. Auch liberale Blätter wie Stern, Zeit und Spiegel bemängeln, daß der Spitzensteuersatz noch immer zu hoch sei, um ausländische Investoren anzulocken, daß Nachtarbeitszuschläge von Krankenschwestern und Polizisten nicht besteuert werden und daß die Kilometerpauschale für Pendler erhalten bleibt. Fast scheint es, als wünschten sich auch liberale Medien die alte Steuerreform der CDU- FDP-Koalition zurück. Eine Reform, die aufgrund ihres Umfangs faszinierte, die aber unsolide war und die Besserverdienenden bevorteilte.
Die SPD hat dagegen eine relativ solide, sozial ausgewogene Reform vorgelegt, die ihrem Wahlprogramm entspricht. Wer diese Steuerreform beklagt, wirft der SPD vor, keinen Wahlbetrug begangen zu haben. Wie groß wäre erst das Geschrei, wenn sie ihr Wort gebrochen hätte! Im übrigen handelt es sich um die größte Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik. Steuervergünstigungen in Höhe von rund 50 Milliarden Mark fallen weg. Die Nettoentlastung der Steuerzahler beträgt 15 Milliarden Mark. Die Unternehmenssteuern werden im Jahr 2002 einheitlich auf 35 Prozent gesenkt. Es hätten noch mehr Steuervergünstigungen abgeschafft werden müssen? Zum Beispiel jene für Landwirte und Anbieter von Jahreswagen? Schon recht. Aber Fehlstart?
Besonders ungerecht ist die Kritik an der geplanten Erhöhung des Kindergeldes um 40 Mark. Nicht CDU/ CSU, sondern SPD und Grüne haben Ernst damit gemacht, mehr für Kinder und Familien zu tun. Familien mit zwei Kindern werden durchschnittlich um 2.700 Mark entlastet. Hut ab! Übertrieben ist auch die Kritik an der Ökosteuer. Sie erfüllt zwar nicht alle Erwartungen. Aber immerhin soll sie in den nächsten vier Jahren 36 Milliarden Mark einbringen. Im Gegenzug werden die Lohnnebenkosten von 42,3 auf 39,9 Prozent gesenkt. Das ist allemal mehr, als Union und FDP zustande gebracht hätten. Mit umwälzenden Reformen ist in dieser Konsensgesellschaft ohnehin nicht ad hoc zu rechnen. Trotzdem wird von Rot- Grün nicht weniger erwartet. Dabei ist es eine Stärke, daß Rot-Grün die Menschen nicht überfordern, sondern mitnehmen will. Schröder ist ein Garant dafür. Auch deshalb ist die SPD gewählt worden.
Die Zeit wünscht sich mehr „Zumutungen“. Aber Zumutungen wollen nur jene, die sie sich leisten können. Die SPD gehe den „Weg des geringsten Widerstandes“, heißt es. Abgesehen davon, daß die SPD für ihre Politik derzeit aus allen Rohren beschossen wird – ist ein steiniger Weg aus Prinzip der richtige?
Die Politik der Bundesregierung zielt darauf, soziale Gerechtigkeit herzustellen sowie traditionelle Werte und Strukturen zu erhalten. Dahinter steckt nicht zuletzt der Gedanke, daß mehr Gerechtigkeit zu mehr Motivation führt. Und neben einer Angebotspolitik soll stärker als bisher die Nachfrage angekurbelt werden, um Investitionen und Arbeitsplätze zu schaffen. Ob dieses Konzept durchschlagenden Erfolg haben wird, ist offen. Aber wäre es nicht klüger, etwas abzuwarten, als das Ganze von vornherein in Bausch und Bogen zu verurteilen?
Zudem macht Rot-Grün eine Europapolitik, die dort anfängt, wo Kohl aufhörte. Anders als die alte Regierung treibt Lafontaine die europaweite Harmonisierung von Steuern und Abgaben voran, damit die Unternehmer nicht einerseits von der guten Infrastruktur eines Landes profitieren und andererseits die niedrigeren Steuern in einem anderen Land ausnutzen. Frankreichs Finanzminister sprach kürzlich davon, daß die Steuerharmonisierung einer der „größten Erfolge“ der deutschen Ratspräsidentschaft werden könnte. Hinzu kommt die Reform des Staatsbürgerrechts, hinzu kommt eine Atompolitik, die, langsam zwar, Ernst macht mit dem Ausstieg aus der Atomtechnik. Hinzu kommt die erstaunlich reibungslose Zusammenarbeit zwischen SPD und Grünen.
Kein schlechtes Zwischenergebnis. Vor allem: kein Grund, jenen routinierten Nörgelton anzuschlagen, auf den sich Journalisten so gut verstehen. Markus Franz
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