Die einen wollen ihn unbedingt, kriegen ihn aber nicht: Italien lehnt eine Auslieferung des PKK-Chefs Abdullah Öcalan an die Türkei ab. Die anderen bekämen ihn zwar sofort, wollen ihn aber vorerst nicht: Die Bundesregierung bevorzugt einen

Die einen wollen ihn unbedingt, kriegen ihn aber nicht: Italien lehnt eine Auslieferung des PKK-Chefs Abdullah Öcalan an die Türkei ab. Die anderen bekämen ihn zwar sofort, wollen ihn aber vorerst nicht: Die Bundesregierung bevorzugt einen Prozeß gegen „Apo“ in der Türkei. Italien ist über Bonn verärgert. Und in der Türkei wogen die Emotionen gegen alles Italienische.

Drei Länder, ein Problem

Es ist naßkalt und der Wind fegt in heftigen Böen über den Platz. Aber politische Aktivisten müssen bei jedem Wetter ran. Der DTP- Ortsverein Kadiköy ruft zu einer Demonstration auf. Die Parteijugend des kleinsten Regierungspartners verteilt Flugblätter, während die Honoratioren in der Platzmitte Schilder aufstellen. Ungefähr brusthoch und in gedruckten Lettern geben sich in dem Kreis sämtliche italienischen Markenartikel ein Stelldichein. „Fiat“, „Alfa Romeo“, „Benetton“, „Juventus“, „Armani“, „Versace“, dazwischen leere Makkaronischachteln und die Reste einer Altkleidersammlung italienischer Designerklamotten.

„Wir fordern Sie auf“, steht auf den Flugblättern, „unseren demokratischen Protest gegen die Entscheidung der italienischen Regierung zum Ausdruck zu bringen.“ Als Kamerateams eintreffen, beginnen zwei Männer die Kleider, die Makkaronischachteln und die Schilder zu einem Haufen zusamenzuschichten. Nieselregen hat die Plakate angefeuchtet. Kurzerhand kommt eine Kanne Benzin über das Arrangement.

Mittlerweile haben sich vielleicht 60 Menschen eingefunden, von hinten wird gedrängelt. Plötzlich drängt alles zurück. Eine Stichflamme lodert auf, symbolisch stehen ein Alfa Romeo und ein Armani-Anzug in Flammen. „Nieder mit der PKK, nieder mit Apo“, schreien die Leute, während aus den Lautsprechern ein alter Schlager dröhnt: „Ich bin verrückt nach dir, für dich könnte ich selbst Rom in Flammen stecken.“

Plötzlich kommt es zum Tumult, die Polizei greift ein. Ein Mann ist ertappt worden. Kein Italiener, sondern ein Taschendieb.

Ein Italiener wäre vermutlich schlimmer dran gewesen: Keine Nation ist in patriotischen Kreisen Istanbuls derzeit weniger gelitten wie die BewohnerInnen des Stiefels im westlichen Mittelmeer. Glaubt man den Medien, ist die Enttäuschung riesig. Gerade Italien, das Land, das man innerhalb der Europäischen Union zu seinen engsten Verbündeten zählt, gerade von Italien hätte man niemals diesen Affront erwartet: Der türkische Staatsfeind Nummer eins, PKK-Chef Abdullah Öcalan, soll nicht ausgeliefert werden.

Der Schmerz gleicht einem Beziehungsdrama. Italienischer Chic erfreute sich größter Beliebtheit, italienische Waren bildeten einen der größten Anteile am gesamten Import, Italienreisen waren für gebildete Türken ein Muß.

Mit einem Schlag ist alles anders. Italienische Waren werden boykottiert. Dieselben Türken, die gestern noch eine Bildungsreise nach Venedig buchten, legen heute schwarze Kränze vor dem italienischen Konsulat in Istanbul nieder. Plötzlich entdeckt man: „Wir kennen Italien gar nicht.“ Im Fernsehen werden Italienexperten bemüht, um das schier Unerklärliche erklärbar zu machen. „Die Italiener“, sagte eine langjährige türkische Rom-Korrespondentin, „haben ein ganz anderes Staatsverständnis als wir. Sie distanzieren sich von ihrem Staat.“

Die meisten Türken dagegen sind derzeit mit ihrem Staat so einig wie lange nicht. Fünfzehn Jahre Krieg in den kurdischen Gebieten, fünfzehn Jahre Propaganda über die Terrororganisation PKK und ihren Führer Abdullah Öcalan haben die Köpfe und Herzen der Menschen geprägt. Daß ein zivilisiertes Land wie Italien dem personifizierten Bösen selbst Unterschlupf und Protektion gewährt, stößt auf absolutes Unverständnis.

Bedrohliche Szenen spielen sich in Boyoglu, mitten auf der Promeniermeile im europäischen Viertel Istanbuls ab. Rund 200 PKK-Sympathisanten haben sich um die Mittagszeit unauffällig gesammelt und starten eine Spontandemo in Richtung Taksim, dem Hauptplatz von Istanbul. Als sie PKK-Transparente entrollen und Parolen rufen, geschieht es: Passanten gehen auf die Demonstranten los. In wenigen Minuten sind die PKK-Anhänger eingekreist, werden mit Steinen beworfen und mit allem geschlagen, was gerade zur Hand ist. Die alarmierte Polizei kommt gerade noch rechtzeitig, um die Demonstranten vor dem Schlimmsten zu retten. Die Polizei nimmt erst einmal alle PKK-Sympathisanten in Schutzhaft.

In ähnlicher Form spielen sich diese Szenen überall im Land ab. Hungerstreikende Anhänger Öcalans sind nach einem Beschluß des Staatssicherheitsgerichts in Ankara sämtlich vorläufig festgenommen. Seit sich in der südöstlichen Provinz Hakari eine PKK-Militante vor dem Polizeihauptquartier als Selbstmordattentäterin in die Luft gesprengt hat, sind auch in der Westtürkei die Sicherheitsmaßnahmen erhöht worden.

Schlimmstes wurde für das ursprünglich für heute angesetzte Champions-League-Spiel zwischen Galatasaray Istanbul und Juventus Turin befürchtet. „Es kann nicht sein, daß wir unser Leben riskieren“, erklärte Juve-Kapitän Di Livio. Obwohl Innenminister Kutlu Aktaș 20.000 Soldaten und Polizisten in Stellung bringen wollte, zog es die Uefa vor, das Spiel erst einmal um eine Woche zu verschieben. Nicht vertagt wurde dagegen in Ankara ein Mißtrauensantrag gegen die Minderheitsregierung von Ministerpräsident Yilmaz, der heute vermutlich Erfolg haben wird.

Wie man sich mit der komplizierten Situation noch arrangieren kann, zeigt der Strickwarenkonzern Benetton. Auf schwarzen Plakaten im Schaufenster teilt man seinen Kunden mit, daß die 5.000 Mitarbeiter in der Türkei über die Entscheidung der italienischen Regierung genauso empört sind, wie alle anderen Türken auch. „Das sagen wir auch in Italien.“ Der Laden in Kadiköy war voll. Jürgen Gottschlich, Istanbul