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Auf der Welt angekommen

Früher war es ein Unglück, morgens als Käfer aufzuwachen. Kafka beschrieb es. Die kleinen Naturforscher von heute sehen das ganz anders. Da kann Junge sich schon mal in eine Spinne oder einen Baum verwandeln  ■ Von Peter Huth

Florian zum Beispiel ist drauf und dran, sich in einen Baum zu verwandeln. Nicht über Nacht, sondern nach einiger Übung kann er alles, was Blätter trägt, verstehen. Das ist schön, aber auch belastend. In der Schule zum Beispiel, wenn vertrocknende Pflanzen lauter schreien als die Lehrerin. Andererseits – hätte er sonst gemerkt, daß die Linde auf der Baustelle mißhandelt wird? Die Topfpflanzen in seinem Zimmer entpuppen sich als Nervensägen. Nur im Baumhaus ist es angenehm still, der alte Ahorn sagt nur hin und wieder ein Sätzchen. Für seine Freundin sind seine Unterhaltungen gewöhnungsbedürftig. Schließlich hört sie immer nur Florian reden. Trotzdem glaubt sie nicht, daß er verrückt ist. Für Hund Humboldt ist alles klar. Er pinkelt Florian ans Bein. Und eigentlich kann man dem Hund nicht böse sein. Florians Baumwerdung ist ziemlich fortgeschritten. Seine Haut wird immer grüner, sein Appetit auf aromatisch riechenden Kompost nimmt zu. Nicht, daß es ihm unangenehm wäre. Aber außer Freundin Meike kann das kein Mensch verstehen. Sie werden ihn ins Krankenhaus bringen oder Schlimmeres. Eine turbulente Flucht beginnt, bei der die Baumwerdung leider etwas in den Hintergrund gerät. Trotzdem ist es eine schöne Idee, gewissermaßen bewußtseinserweiternd.

Martin Klein: „Wie ein Baum“. Ab 11 Jahre, dtv junior, 14,90 DM

Spinnenleiden

Spinnen-Charlie sammelt Insekten aller Art. In seiner Schule ist er anerkannter Experte. Immer wenn jemand schreit: „Iiii, eine Spinne“, wird er zum Lebensretter. Außer Susanne teilt niemand seine Leidenschaft. Trotzdem ist er eher erschrocken, als er feststellt, daß er sich in seine Hausspinne Krabbel verwandelt hat. Schuld an seiner Naturalisierung ist das Insektenforscherglas. Phantastisch so ein Spinnenfaden. Trotzdem ist er froh, am nächsten Morgen wieder Charlie zu sein. Immer wenn es nötig ist, geht er nun auf die etwas andere Reise. Er riskiert dabei so manches Spinnenbein. Und wenn man ihn fragt: „Kannst du dir vorstellen, in einem Ameisenhaufen zu leben?“, dann sagt er schlicht: „Ja.“ Sympathisch dieser Charlie.

Carol Sonenklar: „Spinnen-Charlie“. Ab 9 Jahre, Erika Klopp, 19,80 DM

Phänomenisierung

Der Tigerpark ist die Touristenattraktion, die Fütterung der Höhepunkt der Show. Lebendige Schafe werden geopfert, mitten in England. Steve, ein Junge aus dem Nachbardorf, liebt die Tiger, besonders eine Tigerin namens Lila. Ein Chinese liebt Tiger in Pillenform. Dieser Park ist seine letzte Rohstoffreserve. Deshalb müssen die Tiere sterben. Doch ihre Ermordung wird zum Fiasko. Die Tigerin Lila tötet viele Angreifer und entkommt mit drei weiteren Tigern. Sie flüchten in die Scheune eines kleinen Dorfes. Das Dorf wird zur Kulisse einer Mediensensation: Tigerjagd mitten in England. Steve bekommt Besuch. Das seltsame Mädchen hat Augen wie Lila, die Tigerin. Es dauert eine Weile, bis Steve das Tigermädchen begreift. Er muß die Tiger retten. Mit ganzem Einsatz stürzt er sich in ein turbulentes Abenteuer. Doch die Polizei, der Chinese, die Tigerin, alle verfolgen ihre eigenen Ziele. Aus Jägern werden Gejagte, aus Steve ein Junge mit Liebeskummer. Ein sehr spannendes Buch, das mühelos Realität und Magie miteinander verbindet und die Tiger Tiger sein läßt.

Melvin Burgess: „Tiger, Tiger“. Ab 14 Jahre, Loewe, 19,80 DM

Noch ein Tiger

Jesse ist sauer. Eigentlich hat sein Großvater doch genug Probleme. Er vergißt Wichtiges, jongliert mit Gegenwart und Vergangenheit und verspielt dabei seine Zukunft. Eigensinnig behauptet er, er hätte in der Wüste Tigerspuren gesehen. Es gab nie Tiger. Um ihn zu überzeugen und zum Schweigen zu bringen, gehen Jesse und seine Freunde mit dem Großvater auf Tigerjagd. Es ist wunderschön, wie sich der Eigensinn des alten Mannes verhakt mit alten Viehtreiberzeiten. Seine Herde, die es nicht gibt, sieht er bedroht von traurigen Tigern, die den Jagdtrieb besoffener Möchtegerngroßwildjäger befriedigen sollen. Großvater kämpft wie ein Cowboy, Gewehre machen keinen Eindruck auf ihn. Er ist der Held des Tages. Er hat den Tiger gerettet und seine Zukunft auch.

Ron Koertge: „Tigerspuren“. Ab 11 Jahre, Sauerländer, 24,80 DM

Traumgestalten

Der dreizehnjährige Ben, heimatloses Waisenkind, ist wider Willen in den Wilden Westen geraten. Aus der Sicht eines Kindes, das um seine Existenz kämpft, erfahren wir nun, was das Wichtigste ist im Leben: der Profit. Folgerichtig versucht er, Geschäftsmann zu werden. Altklug und selbstbewußt entlarvt er die Welt der Erwachsenen zwischen Enthaltsamkeitstreffen und Tanzmädchen. Der Drucker Henry, dessen Katze Karl Marx heißt, hilft ihm unauffällig bei der Orientierung. Durch Henrys Zynismus und Bens coolen Größenwahn entstehen herrliche Dialoge.

Als in der Stadt die Enthaltsamkeitsfans gesiegt haben, ziehen alle Anhänger des freien Lebens weiter. So langsam versteht man, daß der Wilde Westen eigentlich nichts anderes war, als eine riesige Völkerwanderung. Die einen treiben die anderen vor sich her. Amerika, das ist zwar reichlich Land, doch hatte niemand mit der Erfindung des Stacheldrahts gerechnet. Ohne freies Land kein Wilder Westen. Ben erlebt die Geschichte bis zum traurigen Ende der letzten Büffel, Indianer und Cowboys. Wie Traumgestalten ziehen sie über die Prärie. Viel zu schnell wurde aus Gegenwart Geschichte.

Peter Carter: „Abschied von Cheyenne“. Ab 14, Freies Geistesleben, 39,80 DM

Tiere – allein zu Haus

Irgendwann merken Kinder, daß Kuscheltiere in echt keine Tiere sind. Nichts wird wichtiger auf der Welt als ein richtiges Tier. Daß große Tiere schlecht in kleine Wohnungen passen, ist klar. Aber es gibt so viele kleine Tiere. Es ist schwierig, sich zu entscheiden. Torsten Winter sorgt geschickt für den Durchblick. Welches Tier braucht was und was braucht das Kind. Nach dem Alter des Kindes geordnet, findet sich hier der gesamte Kleintierzoo wieder. Aber auch Hunderassen und Katzen. Und ehrlicherweise wird nicht behauptet, daß Kinder Tiere allein versorgen können. Gut für die

Tiere.

Torsten Winter: „Ich möchte so gern ein Tier“. Ab 6 Jahre, rororo, 16,90DM

Tauben schießen im Park

Sein Vater ist ein großer Taubenjäger. Im Flur steht zum Beweis die goldene Taube. Und bald würde er, Palmer, auch Tauben töten. Nicht mit dem Gewehr. Er wird den angeschossenen Tieren den Hals umdrehen müssen. Todsicher, sobald er zehn Jahre alt wird. Sein Vater war auch ein Halsumdreher gewesen. Palmer kann nicht, er will nicht in sterbende Taubenaugen blicken. Niemand darf das wissen, außer seiner Freundin Dorothy. Sein ganzes kleines Leben fiebert dem Tag entgegen, und als ob das nicht schlimm genug wäre, fliegt ihm noch eine Taube zu, will unbedingt Nacht für Nacht in seinem Zimmer schlafen. Doch als der entscheidende Tag kommt, gibt er sein ganzes Versteckspiel auf, seine über Jahre gewachsene Maskerade. Spinelli ist es gelungen, die Not des kleinen Jungen im Kampf gegen den Rest der Welt einfühlsam und mitreißend zu beschreiben.

Jerry Spinelli: „Taubenjagd“. Ab 12 Jahre, Dressler, 22 DM

Landmaus und Stadtmaus

Der vierzehnjährige John erzählt aus der Zwischenzeit, zwischen dem Kindsein und dem Erwachsenwerden. In seiner nüchternen gradlinigen Art beobachtet er sich und seine Umwelt wie ein Insektenforscher. Es ist ein heißer Sommer in Alabama, und es passiert nichts. Die wenigen Kinder wohnen weit auseinander. Den weiten Weg zu seinem Schwarm Jenny kann er sich jetzt sparen, er hat ihren Bruder verprügelt. Da kommt im richtigen Augenblick Rodney. Er zieht zu seinem Onkel auf die Nachbarfarm. Sein Onkel ist eigentlich Banker und hat beschlossen, im Ruhestand Tiere zu züchten. Aber er hat keine Ahnung von Ackerbau und Tierzucht. So geht alles gründlich schief. Aber das hält er für den Willen Gottes. Wenn Stadtmenschen aufs Land ziehen, scheinen sie auf jeden Fall Zielscheibe allen Spotts zu werden. Trotzig und stolz versucht Rodney, seine Vorstellung vom Landleben zu verwirklichen, und John guckt zu, sagt mal was, um nicht schuldig zu werden an größeren Unglücken. Aber Rodney hat seinen eigenen Kopf. Ob er nun als Cowboy verkleidet das Lasso über den Preisbullen des Onkels schwingt und dafür geschleift wird, oder versucht, der Sonne zu trotzen. Das Mitleid, das Johns Schwester mit dem armen Rodney hat, kann John nicht teilen. Aber ist er deshalb gleich ein Monster? Der Zusammenprall von Stadt- und Landmaus wird Anhänger des trockenen Humors begeistern.

Donald Wetzel: „Der Regen, das Feuer und der Wille Gottes“. Ab 12 Jahre, Anrich, 24,80 DM

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