: Traurige Kindheiten
■ Ruth White ist eine Autorin, die Geschichten voller Wärme und Tiefe schreibt und hofft, damit der Welt einen Dienst zu erweisen
Die Amerikanerin Ruth White, geboren 1942, hat bisher vier Bücher geschrieben. „Die Schlangenbrücke“, „Das Lied in der Weide“ und „Wenn der Mond über die Berge kommt“ sind ins Deutsche übersetzt. Mit dem ersten Buch schrieb sie sich von ihrer traurigen Kindheit frei. Aufgewachsen zwischen den Kohlebergwerken der Appalachen in Virginia, muß sie als Sechsjährige erleben, wie ihr Vater erschossen wird und die Mutter mit ihren beiden Töchtern in eine Holzbaracke ziehen muß. Die kleine Rente sichert kaum das Überleben. Trotz dieser niederschmetternden Fakten gelingt es ihrer Mutter, den Kindern Geborgenheit und Liebe zu geben. Sogar ein Hund darf mit einziehen. Ein etwas unzuverlässiger Großvater taucht immer dann auf, wenn die Not am größten ist.
Kindheitszauber
Ginny, die diese Geschichte erzählt, und ihre drei Jahre ältere Schwester Junie freunden sich mit den Kindern des kleinen Tales an. Nur das Haus des Zechenbesitzers Clancy wird gemieden. Nach Mord und Totschlag soll es dort spuken. Zwei kleine Mädchen geistern umher. In der Gerüchteküche wird das Feuer geschürt, die Wahrheit verbrannt. Die Kinder merken früh, daß man sich vor Gerüchten nur durch absolutes Stillschweigen schützen kann. Bei ihren wilden Spielen in den Steilhängen der Berge wird Lou Jean, die schöne Freundin Ginnys, ausgerechnet von Mr. Clancy vor dem Absturz gerettet. Niemand erfährt davon. Dagegen ist Lou Jeans Vater, meist betrunken und bei allen Kindern beliebt, ein leichtes Opfer. Aus der Suche nach einer Whiskyflasche im Bach wird ein weiteres Beweisstück seiner angeblichen sexuellen Neigung. Für die Klatschsüchtigen zählte nicht die Tatsache, daß eine Schlange statt in Ginny in die lebensrettende Whiskyflasche gebissen hat, sondern warum ein Mann mit zwei Kindern unter einer dunklen Brücke rumkriecht.
Da bekommt der Kindheitszauber seine ersten Risse. Auch zwischen Junie und Ginny entstehen Gräben. Junie und Lou Jean interessieren sich für Jungen. Ginny bleibt einsam zurück, wenn da nicht der Hund wäre. Und auch er wird sie verlassen. Trotzdem entwickelt sich langsam und leise ein Happy-End. Doch das ist leider nicht autobiographisch. Der versöhnliche Schluß unterstreicht, daß auch unter harten Bedingungen die Glücksmomente einer Kindheit dominieren können. Schon in diesem Buch klingt das spätere Thema vom „Lied in der Weide“ an.
Fluchtversuche
Der Schauplatz ist der gleiche, eine Bergarbeitersiedlung in West Virginia. Die Arbeit ist schwer, die Menschen sind arm. Die Hoffnungen und Träume ihrer Jugend sind zerplatzt. Das läßt Männer zur Flasche greifen und Frauen resignieren. Wieder sind es die Kinder, die auch unter diesen Bedingungen wild entschlossen sind, dem Leben das Beste abzuringen.
Eines dieser Kinder ist die vierzehnjährige Tini. Sie erzählt uns ihre Geschichte. So wie ihre Eltern will sie niemals leben. Ihr Stiefvater trinkt, ihre Mutter flüchtet sich in Krankheiten, ihre kleinen Geschwister sind verwildert. Tinis größtes Glück ist die High-school. Bei ihren Freundinnen und Freunden kann sie ihre Familie vergessen. Und wenn sie mal einen Rat braucht, geht sie zu Tante Evie. Die ist die gute Seele der Siedlung. Seit ihr Mann vor zwanzig Jahren am Hochzeitstag spurlos verschwand, wartet sie. Dabei hat sie viel nachgedacht und zugehört. Ihr Rat gilt und wird in Naturalien bezahlt, sonst wäre sie schon längst verhungert. Sie ist auch die erste, die erfährt, daß Tini sich total in ihren Musiklehrer verliebt hat. Doch von den Problemen, die Tini mit ihrem Stiefvater hat, erfährt sie nichts.
Immer wenn er betrunken ist und die Mutter nicht anwesend, wird die Situation für Tini bedrohlich, bis es eines Tages passiert. Diese Tat nimmt Tini die Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihre Mutter will die Wahrheit nicht wissen. Dem geliebten Musiklehrer schreibt sie nur anonyme Briefe. Ihre Scham ist zu groß. Sie fällt in eine tiefe Depression. Tini erzählt von der schlimmsten Zeit ihres Lebens mit einer einfachen, treffenden Kindersprache. Ruth White spart sich jede unnötige Dramatik. Einfühlsam erforscht sie Tinis Gefühle und schafft eine authentische kleine Persönlichkeit. Weil sie „ihr Kind“ liebt, hilft sie ihr in einer Art und Weise aus dieser schrecklichen Zeit, die auch vielen anderen Kindern Mut machen wird, den Weg aus der Einsamkeit herauszufinden und sich jemandem anzuvertrauen. Was passiert ist, ist passiert. Doch Tini hat es überlebt, und darauf kann sie stolz sein. Dieses Buch ist wohl das bekannteste von Ruth White. In Amerika preisgekrönt, traf es hier auf eine Welle von Mißbrauchsgeschichten. Doch Bücher, die dieses Thema mit literarischer Qualität aufarbeiten, sind selten.
Schön sein garantiert noch keine heile Welt
Für Ruth White ist es wichtig, von Dingen zu schreiben, die sie kennt. So spielen alle ihre Bücher in der Bergwerksregion West Virginias zu der Zeit, als sie selbst noch ein Kind war. Nur das Milieu hat sie in ihrem letzten Buch gewechselt.
Diesmal scheint die Hauptperson Gypsi eine kleine Prinzessin zu sein. Ihre Mutter ist Lehrerin, ihrem Stiefvater gehört die Zeitung. Sie ist bildschön, ihre Großeltern liebevoll, sie scheint also alles zu haben. Doch heil ist ihre Welt nur Tags, nachts quälen sie Alpträume. Sie hätte wohl nie herausbekommen, was sie so beunruhigt, wenn da nicht plötzlich ihr gleichaltriger Cousin Woodrow bei den Großeltern eingezogen wäre. Und ähnlich dem Wollfaden der Ariadne findet sie durch ihn den Weg durch das Labyrinth der Familiengeschichte.
Woodrows Mutter ist plötzlich spurlos verschwunden. Anders als ihre schöne Schwester lebte sie mit einem armen Bergmann in einem einsamen Tal der Appalachen. Der Kontakt zur Familie war so spärlich, daß Gypsi sich kaum an sie erinnern kann. Sie quetscht ihren häßlichen, schielenden Cousin aus wie eine Zitrone, und trotz aller Gegensätze werden sie gute Freunde. Woodrow sucht seine Mutter und Gypsi ihren Vater. Beinahe wäre sie erstickt an dem schönen äußeren Schein, der sie perfekt umgab. Und es braucht ihre ganze Kraft, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen.
Das ist typisch für Ruth White, statt Mord und Totschlag zu inszenieren, weiß sie, daß Kinder Geschichten voller Wärme und Tiefe brauchen. Ehrliche, Mut machende Geschichten, die ihnen helfen, das Erwachsenwerden auszuhalten. Erwachsenwerden kann schön sein, spannend und komisch. Und nur wer sich wieder in das Kind verwandeln kann, das er einmal war, wird den richtigen Ton treffen und die richtige Geschichte finden. Gabi Trinkaus
Ruth White: „Schlangenbrücke“, ab 11, „Das Lied in der Weide“, ab 13, „Wenn der Mond über die Berge kommt“, ab 12, Freies Geistesleben, jweils 28 DM. „Das Lied in der Weide“ gibt es auch als dtv- Taschenbuch, 12,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen