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Ist es eine Verschwörung? Sind Saboteure aus der Autoindustrie am Werk? Oder wird das Spektakel, das sich derzeit auf den Schienen abspielt, zur Volksbelustigung inszeniert? Wie das „Unternehmen Zukunft“ aufs Abstellgleis gedrückt wird, berichten Anne Kühlwetter und Annette Jensen

Chaostage bei der Deutschen Bahn

20. Oktober, 9.24 Uhr, Berlin Ostbahnhof. Etwa 80 Fahrgäste warten auf den Interregio 2003 nach Frankfurt/Main. Es ertönt eine Ansage: „Der Zug hat 50 Minuten Verspätung und fährt vom Bahnhof Berlin-Lichtenberg.“ Der Troß setzt sich in Bewegung. Knapp 20 Minuten durch die Stadt, dann Ratlosigkeit in Lichtenberg: Die Servicekräfte der Deutschen Bahn AG „warten noch auf eine Ansage“. Wer sagt hier eigentlich wem was an? Es klappert die Anzeigetafel. „IR 2003 auf Gleis 16.“ Der Troß hetzt los. Auf Gleis 16 dann eine weitere Durchsage. „IR 2003 heute von Gleis 17.“ 80 Kofferträger poltern die Treppen hinunter, rumpeln durch die Unterführung. An Gleis 17 empfängt sie die nächste frohe Botschaft: „Trotz anderslautender Information fährt der Zug an Gleis 16.“ Ein erhitzter Fahrgast wird am „Servicepoint“ vorstellig. Bei all dem Hin und Her könne sich mal jemand entschuldigen. Das Bahnpersonal stimmt lächelnd zu: „Ja, da haben Sie recht.“

Mag sein, daß sie sich Mühe geben. Schon möglich, daß früher alles schlimmer war. Vorstellbar auch, daß der eine oder andere Zug pünktlich fährt. Wer in den letzten Monaten allerdings regelmäßig mit der Bahn reisen mußte, dem dürfte das Wohlwollen vergangen sein. Mit dem „Unternehmen Zukunft“ kommt man zu spät oder bleibt ganz auf der Strecke, wer einen wichtigen Termin hat, nimmt lieber das Auto. Das versaut zwar die Umwelt, schont aber Geldbeutel und Nerven.

Bis zu 25.000 Verspätungsminuten pro Tag fährt das „Unternehmen Zukunft“ ein, nur etwa 80 Prozent der Züge kommen pünktlich. Während Bahnnutzer eine endlose Kette von Mißgeschicken ausmachen, spricht man intern längst von Managementfehlern. Der Fisch stinkt vom Kopf her, doch die Konzernleitung stellt sich taub. Morgen nun soll Bahnchef Johannes Ludewig dem Aufsichtsrat der DB AG Rede und Antwort stehen. Die ungeliebte graue Maus an der Unternehmensspitze wird den Hut nehmen, hoffen nicht nur genervte Kunden. Auch DB-Mitarbeiter wollen das Chaos nicht mehr mitansehen müssen.

Ihnen nämlich hat der Bahnchef die Schuld zugeschoben, daß die Fahrpläne bestenfalls noch zum Tapezieren taugen. „Mehr Eigeninitiative vor Ort“ sei nötig, klagte Ludewig, es müsse ein „Ruck durch das Unternehmen“ gehen. Ein Rucken und Zucken verzeichnet das Personal indes nur im hauseigenen Fuhrpark. Viele Loks fahren schon an die 40 Jahre und sind altersschwach. Seit man aus Kostengründen die Wartungsintervalle gestreckt hat, werden Defekte nicht mehr rechtzeitig behoben. Systematisch zu Schrott gefahren, so bedauern viele Lokführer, werde das Material. Doch merken soll das der Kunde erst, wenn der Zug schon abgefahren ist.

13. November, 6.38 Uhr, IR 2162 Berlin–Oberstdorf. Herr H. will für ein paar Tage nach Regensburg fahren. Um 5 Uhr ist er aufgestanden und ohne Frühstück losgelaufen. „Imbiß- und Getränkeautomat im Bistrocafé“ hatte der Fahrplan versprochen, das klang nach Croissants und Milchkaffee. Kurz nach Abfahrt dann die Durchsage: „Wir bedauern.“ Kein Kaffee, keine Bockwurst, nicht einmal ein Mineralwasser ist zu kriegen. Herr H. hat inzwischen nicht nur brüllenden Hunger, sondern auch mächtig schlechte Laune. Auf der Rückfahrt bleibt sein Zug ganz stehen. Eine Lok ist liegengeblieben, es dauert endlos, bis der Schaden behoben ist. Trotz Bahncard wird Herr H. in den Winterurlaub fliegen.

Teure Fernzüge, die ohne Licht durch die Nacht rasen. Wildgewordene Klimaanlagen, die wie verrückt heizen. Gnadenlos überbuchte ICE, in denen man sich den Toilettengang besser verkneift. Wer nach den Ursachen der Misere fragt, sieht selten mehr als hilfloses Schulterzucken. Was geht es die Fahrgäste schon an, daß die Personaldecke der DB AG derart ausgedünnt wurde, daß akute Schwächeanfälle der Fahrzeuge auf die Schnelle nicht behoben werden können. Auch Lokführer winken bei Pannen ab. Schon sei Mitte November schieben sie Überstunden pur. Allein in Führerständen fehlen 2.000 Leute, errechnete die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED). Der auffallend hohe Krankenstand im Konzern tut sein übriges. „Es sind Züge ausgefallen, weil es keinen Ersatz für einen kranken Kollegen gab“, berichtet GdED- Sprecher Hubert Kummer.

Improvisiert wird auch draußen auf der Strecke. So patrouillierten früher Gleisarbeiter, um Weichen zu schmieren oder nasses Laub zu entfernen. Seit aber vollautomatische Computerstellwerke riesige Einzugsgebiete überwachen, werden solche Tätigkeiten eingespart – und die Züge rumpeln über Hindernisse, bis es kracht. Gelegentlich fallen ganze Strecken aus, nur weil eine einzige Platine defekt ist. Doch nicht nur die Stellwerkstechnik – überwiegend aus dem Hause Siemens – macht schlapp. Auch nagelneue Neigetechnik- und Doppelstockzüge sind grandios gefloppt.

Probleme gibt's auch bei der „Entstörung“. So wurden „Inspektoren“, die früher im Stellwerk saßen, heimgeschickt. Zugegeben, die Herren verbrachten ihre Tage nicht selten damit, Kreuzworträtsel zu lösen. Blieb aber eine Lok liegen, kam der Inspektor aus dem nahen Stellwerk zum Reparieren. Heute ruft man mobile „Entstörer“ an, die aus dem Landkreis per Auto anreisen. Das mag billiger sein, dauert aber viel zu lange.

Das Personal im Zug muß derweil gute Laune verbreiten. Da werden Weihnachtslieder gedudelt und alternative Zugverbindungen ausgetüftelt. Wer clever ist an der Servicefront, bleibt freundlich. Schließlich mahnt die Konzernleitung pausenlos, das Muffelimage loszuwerden. „Information statt Reklamation“ heißt einer der Sinnsprüche. Gebetsmühlenartig wird in internen Schulungskursen das Einmaleins der Dienstleitung wiederholt. „Teamgeist“ und „Kommunikation“ sollen her, im Krisenfall heißt das: reden, reden, reden – egal was.

12. Oktober, 9.58 Uhr, ICE 757 Berlin–Köln. Vor Wolfsburg bremst der Zug abrupt ab. Es meldet sich eine fröhliche Stimme: „Sehr verehrte Damen und Herren, wegen eines Personenschadens hat der Zug unbefristeten Aufenthalt.“ Igitt, entfährt es einer älteren Reisenden, „da hat sich einer vor'n Zug geschmissen“. Es dauert. Ein Gratisgetränk wird ausgegeben. Um die Wartezeit zu verkürzen, bietet man Reality-TV per Sprechanlage. Live erfährt König Kunde alle Viertelstunden, was sich an der Lok abspielt. Erst kommt der Staatsanwalt, dann die Feuerwehr. Nach über zwei Stunden meldet sich wieder die fröhliche Stimme: „In wenigen Minuten können wir die Fahrt fortsetzen. Aus Pietätsgründen wird nur noch die Lokomotive gereinigt.“ Die ältere Dame möchte aussteigen. Ihr ist übel.

Keine Frage: Für einige Zwischenfälle kann die Deutsche Bahn AG nichts. Etwa dafür, daß Jugendliche im brandenburgischen Rathenow Betonplatten auf den Schienen stapelten, auf die ein ICE prallte. Daß aber Mitte November ein ICE bei München die Oberleitungen herunterriß und einige hundert Reisende vier Stunden lang in dem kalten, dunklen Zug ausharren mußten, stieß auf wenig Verständnis – zumal Fahrgäste bei Herford ähnliches erlebten. Die Masse macht's, seit Eschede kippt die Stimmung. Statt das Bahnchaos hinzunehmen wie den Autostau, rächen die Fahrgäste sich am nächstbesten Blaurock.

20. November, 14.55, ICE 789 Hamburg–München. Dichtgedrängt sitzen die Fahrgäste in den Gängen, in Fulda zwängt sich ein junger Mann mit Reisekoffer ins Abteil. Kurz nach 9 Uhr hat er Berlin verlassen, um 18 Uhr beginnt sein Seminar in Nürnberg. Im verspäteten Interregio nach Bitterfeld hat er noch gefiebert, beim verpaßten Anschluß geflucht, nach einem zweiten unfreiwilligen Umsteigemanöver rastet er aus. „Warum soll ich mir hier ein Magengeschwür holen?“ schreit der junge Mann die Schaffnerin an. Er verweigert das Abstempeln der Fahrkarte und will sein Geld zurück. Die Zugbegleiterin mault zurück, empfiehlt einen Beschwerdebrief und wünscht „gute Fahrt“. Man dankt.

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