: Balsam, der schlampig gerührt ist
■ Wolfgang Neuss hätte fast zehn Jahre nach seinem Tod Besseres verdient als ein zweifelhaftes altes Filmporträt (Sa., 19.20 Uhr, 3sat)
„Love Parade schön und gut – aber man sollte allmählich auch mal die Vertriebenenverbände mit einbeziehen“ – so oder ähnlich hätte er wohl aktuelle Zustände in der Reichshauptstadt kommentiert: Wolfgang Neuss, seit Donnerstag (wär' er nicht schon im Mai 1989 verstorben) 75 Jahre alt.
Anlaß genug für 3sat, ein kurz nach Neuss' Tod entstandenes Porträt von Jürgen Mierenmeister gleich dreifach zu wiederholen: „Der Mann mit der Pauke – eine Erinnerung an Wolfgang Neuss“. „Kultfigur seit den 50er Jahren, Deutschlands Kabarettschnauze Nr. 1“, deklamiert Mierenmeister da zu nächtlichem Berliner Straßenverkehr. Ausgerechnet Mierenmeister hatte der bereits schwerkranke Neuss ein letztes TV-Interview gewährt, das, angemacht mit einigen sehenswerten Programm- und Filmausschnitten, endlosen Kamerafahrten durch den Berliner Nachtverkehr, einer phraseologischen Aneinanderreihung von stereotypen „Wochenschau“-Fetzen der 50er und 60er sowie etlichen Ausschnitten aus einem offenbar eingehenden Weizsäcker-Interview zum Thema Neuss nun zum wunderlichen Nekrolog herhalten muß.
Zweifellos war Neuss in seinen guten Zeiten ein wahrer Berserker an Bühnenpräsenz und oft genug gut wie Gold. Robert Gernhardt z.B. fiel aber schon 1982 auf, daß ein Gutteil seiner Pointen „die Mediengrütze genauso ungeordnet wieder ausschied, wie sie aufgenommen wurde“. Noch mehr als das belegt der Film allerdings etwas anderes: Daß die eigentliche Mumifizierung des Wolfgang Neuss durch die Medien erfolgt ist. Zahllose Journalisten haben seinen angeblichen Totalrückzug nämlich lückenlos für Stehsatz und Sommerlöcher dokumentiert (auch Kamerad Mierenmeister wird's nur deshalb in seine Wohnhöhle verschlagen haben), eine Zurichtung zum Running Gag, gegen die er selbst mit seinem späten Indianerschamanismus kaum ankam. Die Redaktionen balsamierten ihn – und die Hoffnung auf ein Comeback – immer weiter ein. Was zu immer begriffsloserem Abklatschen führte – siehe wiederum Mierenmeister, der ihn mit Bowie, Lou Reed und Element of Crime schauderhaft untermalt.
Dank eines SFB-Porträts einer Berliner Richterin ist dabei sogar eine Neuss-Verhandlung wegen „Drogenbesitzes“ erhalten – kurz: fast zehn Jahre nach seinem Tod hätte Neuss schon aufgrund des Materials mehr als diese zusammengeschlampte Würdigung verdient gehabt. In der dann auch mal Dinge wie seine schwere Tablettensucht zu seinen Hochzeiten, seine entscheidende Karrierehilfe für Biermann oder Umstand zur Sprache gekommen wäre, wie eng er mit den von ihm attackierten Top-Mediokraten zeitweilig privat verfilzt war: mit Augstein und Boenisch in Kampen soff oder in Rudolf-Schock-Filmen mitmischte. Über all das hat er vollkommen ehrlich Auskunft gegeben. Aber man hätte es natürlich erst heraussuchen müssen. Christin Meurer
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