Zwischen einander

Martin Walser und das Wegschauen. In der Debatte über das Gedenken muß den Gefahren paradoxer Reaktionen Rechnung getragen werden. Nachbeugende Analeptika zur deutschen Gedächtniskultur  ■ Von Daniele Dell'Agli

Immer wenn ich, gefragt oder ungefragt, privat oder öffentlich, mich zum Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit äußere, können Freunde und Zuhörer, Gesprächspartner und Zensoren ihren Neid kaum verhehlen: Du als Italiener, du kannst so reden; Sie als Ausländer können es sich leisten. Wir dürfen nicht einmal daran denken, selbst wenn wir wollten. Ich als Italiener? Ich als Ausländer?

Seit über dreißig Jahren lebe ich in diesem Land, seit fast zwanzig hadere ich hauptberuflich mit den Abgründen – den verlockenden wie den abstoßenden – seiner Kultur; und dennoch drängt man mir die Gnade, nein, keiner späten, vielmehr einer exterritorialen Geburt, sozusagen außer Konkurrenz, auf, als wären Argumente gleichsam das Destillat der genealogischen Substanz ihres Trägers und somit nicht satisfaktionsfähig bei fehlenden germanischen Stammzellen.

Ein Vierteljahrhundert ist es her, da ich im Geschichtsunterricht eines ordentlichen deutschen Gymnasiums erstmals über die Deportation und Ermordung der europäischen Juden erfuhr, das war zumindest an höheren Schulen Standard, lange bevor Hollywood den Holocaust popularisierte. Ich erinnere mich an die Vorführung von Alain Resnais' „Nuit et Brouillard“, an meinen Widerwillen gegen die aufdringlich kaspernde Begleitmusik von Hanns Eisler, die besser zu einem Disney-Film gepaßt hätte. Die beispiellose Frivolität wurde ästhetisch als Moment einer Kontrastdramaturgie begründet, in Wahrheit sollte das leichtfüßige Scherzando die Bilder des Grauens erträglich machen. Ein paar Takte Schostakowitsch hätten jedes Hinschauen wohl sogleich in Tränen aufgelöst. Zum ungewollten musikalischen Reizschutz kam noch die atemlos erregte Stimme des Sprechers (Paul Celan) verstörend hinzu. Eher nebenbei prägten sich damals einige krude Fakten ein.

Was kann ein Heranwachsender verkraften, wie soll er die Tragweite jener Geschehnisse ermessen? Welche Aufmerksamkeit darf man ihm abverlangen, welches Interesse von ihm erwarten? Was wiegen die gefilmten Leichenberge einer fernen Zeit – bald wird man sagen: eines anderen Jahrhunderts – gegen einen einzigen leibhaftigen Toten, gar einen aus dem Kreis der Nächsten? Wie sollen Angst und Verzweiflung jener Opfer gegen die akute Verzweiflung eines unglücklich verliebten Teenagers ankommen? Laut einer Studie des Kölner Instituts für Kommunikationsforschung haben ein Fünftel der Jugendlichen in Deutschland noch nie von Auschwitz gehört, viele wissen nicht, wovon sie reden, wenn sie das Wort in den Mund nehmen. Na und, ist man versucht zu fragen. Wie wenig solche Erhebungen besagen, hätte der Leiter der Untersuchung beim „dummen Adorno“ (Alphons Silbermann in der taz vom 10.November) nachlesen können, der schon 1966 (in „Erziehung nach Auschwitz“) warnte, daß alle Aufklärung nichts nützt, wenn nicht bereits in frühem Kindesalter eine Charakterbildung gefördert wird, die Menschen vor Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen bewahrt und sie damit für (z.B.) staatlich verordneten Terror unempfänglich macht.

Ich habe später noch einige Male hingeschaut, wenn Berichte über die Konzentrationslager gesendet wurden, dann nicht mehr. Ich hatte irgendwann begonnen, die Dimensionen dessen zu erahnen, was seit Mitte der 80er Jahre in immer kürzeren Abständen über den Bildschirm flimmert und woran keine Worte, nicht einmal die Primo Levis oder Robert Anthelmes, heranreichen. Insbesondere war mir bewußt geworden, daß solche Aufnahmen jeden Kontext einer noch so gut durchdachten Aufklärung sprengen, ja, daß jede wiederholte Konfrontation mit dem Entsetzlichen eine zuviel sein konnte, die das eigene Entsetzen zu routinisieren und die frühen Eindrücke zu löschen drohte. Ich wollte mich nicht an diese Bilder gewöhnen, und seitdem sie mir etwas bedeuten, bin ich sicher, der falsche Adressat dafür zu sein. Auf nichts anderes hat Martin Walser hingewiesen, und er hat es sehr moderat getan.

Er hätte weiter gehen und von der unerträglichen Banalisierung des Grauens durch dessen permanente Zurschaustellung sprechen können. Wer um ein persönliches Verhältnis zu dieser alles persönliche Maß übersteigenden Tragödie ringt, der muß sich von der üblichen Praxis ihrer mediengerechten Illustration wie von der Obszönität eines nekrophilen Bilderkults abgestoßen fühlen. Und wer spürt, daß wiederholtes Zeigen nichts zum Verständnis des Gezeigten beiträgt, darf sich zu Recht fragen, warum er schon wieder damit konfrontiert wird, woran da eigentlich appelliert wird und ob überhaupt noch appelliert wird.

Und jetzt stellt sich der böse Verdacht ein, hier werde ein moralisches Dispositiv bedient, ein System, das an die Stelle des (mangels eigener Verstrickung nicht vorhandenen) schlechten Gewissens ein Äquivalent für Schuldgefühle auslösen soll. Man möge wenigstens mit einer Stimmungsverdüsterung oder einer Vergiftung der eigenen, offensichtlich ungerechtfertigten Lebenslust – ein fürwahr kostbares, weil seltenes Gut unter Deutschen – für die Verbrechen der Vorfahren büßen. Gezielt, wenn auch unbewußt werde hier das deutsche National-Ich, von dem niemand mehr außer ein paar Wirrköpfen etwas wissen will, zur Reaktivierung des deutschen Selbsthasses aufgerufen, zur Perpetuierung des auffälligsten Merkmals deutscher Seelenverfassung, des Dauerfrusts, angehalten. (Warum sind die so schlecht drauf?“ ist das erste, was der fremde Blick an Inländern wahrnimmt.)

Von allen Instrumentalisierungen der Jahrhundertkatastrophe – und hier muß neben der rhetorischen („geistige Brandstiftung“) und der symbolpolitischen auch jene wohlfeile Selbstentlastung der alliierten Kriegführer genannt werden, deren epochale Verdrängungsleistung sie befähigen sollte, unbekümmert sogleich wieder in Indien und Algerien, im Kongo und in Vietnam usw. an ihr mörderisches Werk zu gehen –; von allen Instrumentalisierungen also scheint mir dieses Spiel einer ritualisierten Zwangsaufklärung mit der psychohistorisch gut verankerten deutschen Anfälligkeit für chronische Lebensverneinung die subtilste und gefährlichste. Sie befördert das Gegenteil dessen, wofür sie wirbt, und sie beruft sich auf eine durch nichts gedeckte, aber als unumstößliche Wahrheit historischen Bewußtseins gebetsmühlenartig wiederholte Meinung. Diese Meinung besagt, daß Geschichte, die nicht erinnert wird, dazu verurteilt ist, sich zu wiederholen.

Vorausgesetzt wird hierbei entweder, daß Geschichte in Form von Erinnerungen überliefert wird und daß die Summe der Zeugnisse unmittelbar Beteiligter oder Betroffener ein zureichendes Geschichtsbild ergibt; oder daß objektiviertes Faktenwissen didaktisch in Erinnerungen umgewandelt werden kann. Doch es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß Subjekte über ein sensibles Organ für Erfahrungen verfügten, die sie nicht gemacht haben, über ein Gedächtnis also, das gleichsam über Räume, Zeiten und Generationen hinweg fremde Erlebnisse und Schicksale sich anverwandelt, als wären es seine eigenen. Denn erinnern läßt sich strenggenommen nur, was einst Gegenwart für den eigenen Körper war und sich in ihm eingeschrieben hat (auch darauf insistiert Martin Walser zu Recht).

Die bloße Information über Vergangenes läuft demgegenüber Gefahr, zum abrufbaren Archivmaterial entschärft zu werden, das jedes unpersönliche Gedenken zur Folgenlosigkeit verurteilt. Die Dokumentationen der oral history können hier zwar eine Brücke schlagen, indem sie über die Identifikation mit Einzelschicksalen und dem Erzählcharakter der Berichte etwas von der Intensität und dem Appellcharakter persönlicher Erinnerung empathisch übertragen. Ähnliches gilt für zeitgetreue Autobiographien oder Romane und mehr noch für ihre Verfilmungen (exemplarisch die von Ralph Giordanos „Bertinis“): Sie können besonders empfindliche Zuschauer gewissermaßen secondhand traumatisieren – mit individuell verschiedenen und jedenfalls nicht rekrutierbaren Langzeitwirkungen –; doch auf die Voraussetzungen solcher Reaktionen haben sie keinen Einfluß.

Nichts als Abwehrzauber ist darüber hinaus der behauptete Kausalnexus zwischen dem Vergessen/Verdrängen historischer Tatbestände und ihrer Wiederholung einerseits und dem Erinnern/ Gedenken und ihrer Verhinderung andererseits. Wer mit dieser Denkfigur operiert – und wer tut das nicht? –, erweckt nicht nur den Irrglauben, daß es in der Macht von Gedenkpraktiken stehen könnte, komplexe gesellschaftliche Prozesse zu steuern (und daß die Verhütung verhängnisvoller Entwicklungen nur eine Sache von Aufklärung sei); mit dem Begriff einer auch nur denkbaren Wiederholung wird obendrein das Gespenst einer ahistorischen Kontinuität beschworen, eines Potentials an Unüberwundenem, das jederzeit in neuer Gestalt wiedererweckt werden kann, wenn... Als Nachweis für die dämonische Latenz der Barbarei müssen dann episodische oder symbolische und letztlich (bei aller Widerwärtigkeit der Vorfälle) marginale Reprisen herhalten, da die Vergleichbarkeit ganzer historisch-politischer Konstellationen und komplexer gesellschaftlicher Bedingungen nirgends gegeben ist.

Dabei würden sich einer diachronen Prüfung genügend aufschlußreiche Analogien anbieten, zum Beispiel im nach wie vor verdächtig effizienten Zusammenspiel inhumaner Strukturen der Bürokratie mit gewissen Eigenarten deutscher Mentalität. Hier ließen sich neue Türen zu den Verliesen des Unheimlichen aufstoßen, aber dazu müßte der Focus der Aufmerksamkeit von der Opfer- zur Tätergeschichte verschoben und diese teilweise von jener abgelöst werden; eine um Jahrhunderte zurückgreifende Archäologie deutscher Affekte würde mit einer Analyse der Verwaltung von Leben und Tod in den Institutionen den Exzessen des Tausendjährigen Reichs den Bann der Einmaligkeit nehmen. Ein derart entdramatisierter Aufklärungsgestus eignete sich dann allerdings kaum für vergangenheitspolitische Aufladungen, und dazu ist offenbar noch niemand bereit.

Traurige Beweise für den fehlenden Zusammenhang von Vergangenheitsaufklärung und Gegenwartsverhalten liefern uns die tagtäglichen Meldungen über massenhaft unterlassene Hilfeleistung. Wenn abends die obligatorische Geschichtslektion, der Bitterstoff, der den meisten Nachrichtensendungen seit Jahrzehnten beigemessen wird, in die Grauzone zwischen Arbeitsspeicher und Unbewußtem einsickert und am nächsten Morgen doch weggeschaut und weggehört wird, wenn in der S-Bahn eine Frau vergewaltigt wird oder hirnlose Glatzen Afrikaner zu Krüppeln schlagen, dann kann von einem erzieherischen Sinn des lebenslänglichen Nachhilfeunterrichts keine Rede sein. Zivilcourage lernt man eben nicht aus dem Fernsehen oder der Presse. Da nützt die subjektiv integerste Einstellung nichts, sie bleibt folgenlos, weil die psychosozialen und die psychotonischen Grundlagen von Mut und Solidarität, von Mitgefühl und Spontaneität in einer Lebensphase und unter Umständen ausgebildet werden, da „Vergangenheit“ noch nicht einmal kategorial eine Rolle für das dämmernde Bewußtsein spielt.

Es ist ein frommer Selbstbetrug von Gutmenschen, die mit Lichterketten und Schweigemärschen den Ernstfall des Füreinander simulieren, anzunehmen, daß jemand gegen rechten Mob einschreiten oder wenigstens Flüchtlingen ihr Schicksal erleichtern wird, wenn man ihm nur oft genug vergegenwärtigt, auf welch beschämende Weise seine Eltern und Großeltern versagt haben. Die Kluft zwischen Absichtserklärungen und tatkräftiger Einmischung ist willkürlich nicht zu überbrücken. Soviel wir über die Pathologie des Ressentiments mittlerweile wissen, sowenig gibt die Logik impulsiver Zuwendung – unabdingbare Voraussetzung für Zivilcourage – ihr Geheimnis preis.

Vieles spricht sogar für eine Umkehrung der geläufigen Kausalität; denn während sich Affekte als aufklärungsresistent erweisen, schürt Aufklärung vor allem eine Haltung: Vorsicht. Sie steht im Dienst der Risikoabwägung. Je mehr ich über eine Sache weiß, desto höher die Hemmschwelle fürs Handeln. Ein Autofahrer, der einem Verletzten am Straßenrand nicht hilft, kann sich bei entsprechendem Wissensstand ohne weiteres damit entschuldigen, daß er sich keiner ansteckenden Krankheit, keinen rechtlichen Komplikationen oder gar der Gefahr eines Überfalls aussetzen möchte. Beherztes Eingreifen erscheint demgegenüber als Kurzschlußreaktion, die von hochgradiger Selbstvergessenheit oder mindestens Naivität begleitet sein will. Aufgeklärtes Bewußtsein allein greift nie ein, aber immer in Gedanken an mögliche Konsequenzen voraus. Das nennt sich Besonnenheit und ist doch meist eine selbstlähmende Vermeidungsstrategie. Für den einzelnen nicht weniger als für die Wirtschaftspolitik oder für die Nato.

Sicherheitsbedürfnis und Zukunftsangst, Anspruchsdenken, Dienstbeflissenheit und Delegationseifer haben in Deutschland einen Staat hervorgebracht, der von der Wiege bis zur Bahre, vom Abstandsgrün bis zum ehelichen Schlafzimmer nahezu jede Regung seiner Bürger reglementiert, und zwar gründlicher als irgendwo sonst auf der Welt. Der Preis ist Weghören und Wegschauen von allem, was einen nicht direkt und unausweichlich betrifft, da mag man noch so oft hinschauen und hinhören, wenn das Fernsehen den Zusammenbruch der Zivilisation memoriert. Die Massenmedien tun ihr Übriges zur Anästhetisierung eines monadischen und antriebsarmen Distanzbewußtseins, und so ist das Problem längst kein deutsches mehr. Daß sich etwa seit einem Jahrzehnt mit der Metapher des Netzes nur noch die Assoziation der unendlichen Verwobenheit in der Fläche und nicht die der hilflos zappelnden Gefangenschaft einstellt, ist nur ein Indiz für die Akzeptanz der eigenen Ohnmacht wie der allgegenwärtigen Ohnmachtsverhältnisse im kulturell erschöpften Kontinent.

Mit diesen Überlegungen soll nun keineswegs das schwärzeste Kapitel deutscher Geschichte aus dem Gedächtnis der Nachwelt getilgt, wohl aber die Notwendigkeit eines Gedenkens plausibel gemacht werden, das den Gefahren „paradoxer Reaktionen“ (Enzensberger), wie ich sie angedeutet habe, Rechnung tragen könnte. Ich möchte das identitätspolitische Dilemma, das ihnen zugrunde liegt, auf die Gleichung bringen: Wer deutsche Vergangenheit sagt und Auschwitz meint, muß die „deutsche Nation“ mit in Kauf nehmen. Wer deutsches Geschichtsbewußtsein im Namen der Opfer des Holocaust anmahnt, beschwört ein nationales Bewußtsein, das schon deshalb ein reines Phantasma ist, weil seine letzte Referenzgröße vor mehr als einem halben Jahrhundert in Trümmern zerbarst. Beides hängt zusammen: Man kann nicht permanent die deutsche Geschichte der ersten Jahrhunderthälfte ins Bewußtsein heben, ohne ihren großen mythischen Parasiten, den nationalen Virus, mit einzuschleusen. Die moralisch erpreßte Affirmation der negativen historischen Fixierung erzeugt dann das, was Walser mit Heinrich August Winkler den „negativen Nationalismus“ genannt hat. Er hätte sich ebensogut auf Henryk M. Broder berufen können, der in diesem Zusammenhang von Auschwitz als von einer „identitätsstiftenden Metapher“ sprach. Ein zentrales Holocaust-Denkmal würde diese Funktionalisierung deutschen Vergangenheitsbezugs vollends besiegeln.

Es geht wohlgemerkt nicht darum, dem negativen Selbstbild von Deutschsein ein positives gegenüberzustellen. Die Geschichte ist kein Selbstbedienungsladen für kollektiven Narzißmus, man kann sich nicht aussuchen, was einem gerade gefällt. Es geht darum, jene unumkehrbare Erosion altdeutscher Identität zu bejahen und zu befördern, die man einst als die eigentliche historische Leistung der Bonner Republik rühmen wird. Seit der Wiedervereinigung hat sich diese Erosion, dieses allmähliche Abdriften ins ethnisch Eigenschaftslose oder Transethnische, merklich verlangsamt. Das liegt weniger an der sprunghaft gewachsenen Zahl rechtsextremistischer Schandtaten, denen man nicht den Gefallen tun sollte, sie gemäß ihrem rückwärtsgewandten Selbstverständnis einzustufen: Sie agieren hierzulande unter Naziemblemen ein in der ganzen Nordhemisphäre verbreitetes fremdenfeindliches Syndrom aus, das mit dem klassischen Antisemitismus nichts gemein hat.

Zur Regression des deutschen Imaginären tragen vielmehr maßgeblich die an Frequenz und Dramatik zunehmenden Tribunalisierungen der Nazizeit bei, die zu jedem Gedenktag und bei jeder neuen einschlägigen Veröffentlichung medienwirksam Wiederaufnahmeverfahren in Sachen Vergangenheitsbewältigung eröffnen. Besonders kontraproduktiv wirkt hierbei die scheinheilige Versicherung, die heutigen Deutschen seien zwar nicht schuld an den Greueln der braunen Diktatur, trügen aber doch „Verantwortung“ gegenüber ihrer Geschichte. Gemeint ist zwar Verantwortung für die Zukunft im Sinne jenes bereits diskutierten Abwendungsgebots, doch im Kontext eines bereits Geschehenen erzeugt der Begriff Verantwortung unweigerlich Resonanzen, die denen von Schuldgefühlen zum Verwechseln ähnlich sind. Dagegen regt sich diffuser Widerstand, Mißmut, trotzige Abwehr, wieder werden Energien blockiert, die zur Gegenwarts- und mehr noch zur Zukunftsbewältigung dringend gebraucht werden.

Die Fiktion der Erbschuld ist hierbei nur die moralische Version der ewiggestrigen „Schicksalsgemeinschaft“: zwei Anstiftungen zur Reintegration jener Un- und Abarten des Deutschseins, die gemäß der Halbwertzeit des „Kontinuitätsbruchs“ seit Kriegsende unaufhaltsam diffundieren. Salopp gesagt: Die Deutschen weigern sich zu werden, was sie sind, sie verlernen ihre Herkunft und, mit jeder Generation ein bißchen mehr, die Aufschubs- und Ersatzökonomie, die sie seit Jahrhunderten so gegenwartsfremd (und so gefährlich) gemacht hat und unter der sie selbst am meisten leiden – andernfalls gäbe es nicht eine weltweit einmalige Heimatflucht, in den „warmen“ Süden, in die „Weiten“ Kanadas, immer häufiger ohne Rückfahrkarte. Und mit jedem Molekül Althergebrachtem, das von ihnen abfällt, streifen sie etwas von ihrer Selbstfremdheit ab, werden sie durchlässiger und empfänglicher für die Versuchungen, aber auch reaktionswendiger für die Provokationen anderer Kulturen.

Doch der öffentliche Legitimationsdiskurs läßt sie nicht, wittert alarmiert einen breiten Trend zum Einstieg in den Ausstieg aus dem deutschen Schuldzusammenhang, dekretiert Amnesieverbote und fordert Trauerarbeit ein. Umsonst. Denn diese Dynamik verdankt sich nicht der Verschwörung reaktionärer Verdrängungskünstler, sie ist Ausdruck eines Generationenwechsels und mehr noch der Neuorganisation persönlicher Identität im Kräftefeld von Individualisierung und Globalisierung. Paradoxerweise scheint gerade in der verweigerten Arbeit am nationalen Gedächtnis der spezifisch bundesrepublikanische Ansatz zur Selbsttherapie psychohistorischer Altlasten zu liegen.

Für diese Ausweichstrategie spricht, daß bezweifelt werden darf, ob der Holocaust zum kulturellen Gedächtnis gehört, durch das „wir“, wie Thomas Assheuer in der Zeit vom 12.November meint, wie durch ein Prisma „unsere Gegenwart wahrnehmen“, oder ob er nicht vielmehr das schwarze Loch bezeichnet, das alles Licht der Erkenntnis absorbiert, das „wir“ (die Intellektuellen? Und wer noch?) darauf zu werfen versuchen. Außer Frage steht jedoch, daß es keine Möglichkeit gibt, Stigmatisierungen der „eigenen“ (Vor-)Geschichte zu übernehmen, ohne in den Gedächtnisraum Deutschland einzutreten und sich von seinen Vampiren anzapfen zu lassen – das ist nicht zuletzt die Lehre der „Deutschen Geisteshelden“ von Anselm Kiefer.

Geschichtsvergessene „Normalität“ bedeutet insofern immer auch eine relative Immunisierung gegen die chauvinistischen Versuchungen des nationalen Phantasmas. Je wertloser seine Identitätssurrogate für den einzelnen werden, desto unwahrscheinlicher die Gefahr, jemals wieder dessen Affekte für seine Ziele zu mobilisieren. Und diese Immunität scheint zur Zeit nirgends stärker ausgeprägt als bei den Deutschen. Das hängt auch damit zusammen, daß die letzte große Staatsaktion, die Volk und Nation zusammenzuschweißen vermochte, also der letzte Krieg, eine ganze Generation länger zurückliegt als in Frankreich oder England, Rußland oder den USA.

Für die Inhaber eines deutschen Personalausweises zeichnet sich immer mehr das Bild einer Identität ab, deren Elemente älter und stabiler sind als die Blockbuster der Nationalstaatsperiode (Rasse, Volk, Vaterland), weil sie den konkreten Erfahrungshorizont der Individuen markieren: Geschlecht, Beruf, Gesundheit und Alter, Familie, Freunde, Interessen und Neigungen. Den durchschnittlichen Gesamtdeutschen plagen Rückenschmerzen oder Geldsorgen, bürokratische Schikanen, Verkehrsstau, Arbeitsstreß oder Familienstreit – die Verwerfungen seines nationalen Selbstbewußtseins bleiben ihm fremd und abstrakt. Als pragmatisch veranlagter Staatsbürger interessiert er sich zunächst für die Gemeinde, in der er lebt, dann für seine Region und bald mehr für die europäische als für die Bundespolitik. Daß es von seiner Sorte noch achtzig Millionen gibt, weiß er aus dem Fernsehen; daß Sprach- und Steuergemeinschaften an gewissen Kalendertagen sich ihrer symbolischen Kohärenz versichern müssen, weiß er aus den Debatten des Feuilletons und den Ansprachen des Bundespräsidenten, an den er gern die Zuständigkeit für Pathosformeln delegiert. Kurz: Der Endverbraucher des deutschen Sonderwegs ist in der modernen Nation angekommen, in jener „hysterischen Erregungsgemeinschaft“ also, die laut Peter Sloterdijk nur noch „durch audiovisuell erzeugten Synchronstreß in Form“ gehalten wird. Und was ihn erregt, ist von der Rechtschreibreform bis zum Ozonloch so ziemlich alles, nur nicht die Erregungsgemeinschaft selbst.

Ob dies bereits die vielgescholtene deutsche Normalität ist? Wenn Sie bei der Lektüre dieser Überlegungen vergessen haben, daß sie von keinem Deutschen angestellt wurden, können Sie die Frage getrost bejahen. Martin Walser hat zu dieser Entwicklung übrigens mehr beigetragen, als er selber wahrhaben will, und zwar bereits dadurch, daß er sich dem erpreßten Konsens intellektueller Selbstbezichtigung, der Pflicht zur habituellen Deutschbeschimpfung, nie anbequemt hat. Nun hat er den anderen Konsens, den einer gemeinsamen Gedächtniskultur, aufgekündigt.

Miteinander können sie nicht mehr, gegeneinander wollen sie nicht, ohne einander geht es aber auch nicht. Vielleicht versuchen sie es einmal zwischen einander?

Daniele Dell'Agli ist freier Autor und Kulturwissenschaftler und lebt in Berlin