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Die Zeit der Mahner läuft ab

■ Ach, Europa! Du warst der Traum der Intellektuellen. Heute fragen sich die Spezialisten fürs Allgemeine, ob's Alp- oder Wunschtraum sei. Neue Bescheidenheit und letzte Gefechte auf dem Berliner Treffen des Gei

Die Zeit der Mahner läuft ab

Im griechischen Mythos ist Europa eine phönizische Jungfrau, also keine Europäerin. Der verliebte Göttervater Zeus verwandelt sich in einen Stier, um die Begehrte auf dem Rücken über den Bosporus zu tragen und sie am anderen Ufer ungestört zu vergewaltigen – ein früher Fall von sexuellem Mißbrauch, illegalem Grenzübertritt und Schleppertum. Götter dürfen das. Europa („Die Weitsichtige“) zeigte sich im Umgang mit der Macht von Anfang an nicht besonders klug. Die Geschichte des europäischen Kontinents begann, wie sie sich fortsetzte: kriegerisch und gewalttätig.

Im dritten Jahrtausend aber wird alles gut. Europa wird eine große, friedliche Republik, und das Ideal des soldatischen, gewaltbereiten Menschen wird vom „Ideal des denkenden, verantwortungsbewußten Spielleiters“ abgelöst.

So sieht es der ungarische Schriftsteller und Berliner Akademie-Präsident György Konrád. Er war einer der wenigen, der auf dem internationalen Schriftstellerkongreß zum Thema „Europa“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt eine positive Utopie entwarf: Eine Gesellschaft, die „dialogisches Denken“ und die bürgerliche Tugend des Respekts höher schätzt als den Krieg. Schön wär's.

Der Kongreß fand genau zehn Jahre nach einem ähnlichen Zusammentreffen an selber Stelle statt. Damals hieß das Thema „Der Traum von Europa“. Man versuchte sich an einem Begriff von „Mitteleuropa“ – was der DDR suspekt war. Sie verbot ihren Autoren die Teilnahme. Die Frontstellung war klar, auch wenn keiner geglaubt hätte, daß schon ein Jahr später Mauer und Kalter Krieg Geschichte sein würden.

1998 ist der Streitwert unter Intellektuellen weniger deutlich. Das Kongreßthema „Europa – Wunschtraum oder Alptraum“ ließ sich schlicht beantworten: ja, beides. Der Charakter von Europas Grenzen hat sich seit 1988 verändert. Heute geht es darum, die neu entstehende Einheit begrifflich einzugrenzen: irgendwo zwischen der Angst vor kultureller Überformung durch die US-Amerikaner – und der Angst vor verarmten Russen andererseits. Die konnten sich, wie der mexikanische Autor Juan Villoro lustig formulierte, „im Winter ihres Mißvergnügens jederzeit auf Skiern nach Berlin aufmachen“. Das Wort „Grenze“, erläuterte der polnische Publizist Adam Krzeminski, ist eines der wenigen polnischen Lehnwörter in der deutschen Sprache. Im Polnischen bedeutet es „Raum, in dem sich viele Einflüsse überlappen“: Ein Wort, das die polnische Erfahrung widerspiegelt, insgesamt Grenzgebiet zu sein. Der Kongreß hätte kaum besser terminiert sein können: Intellektuelle wie Mario Vargas Llosa, Richard Sennett, André Glucksmann, Jens Reich oder Harry Mulisch trafen sich wenige Wochen vor der Einführung des Euro, wenige Tage vor dem 50. Jahrestag der Deklaration der Menschenrechte – und mitten hinein in die von Martin Walser und Ignatz Bubis angestoßene neue Runde der deutschen Vergangenheitsdebatte.

Alle drei Aspekte reagieren aufeinander. Die Europadiskussion ist ein notwendiges Korrektiv zur deutschen Erinnerungsdebatte mit ihrer Tendenz zur weinerlichen Nabelschau. Wenn das Erinnern nicht im Entwurf für „Europa“ steht, bleibt es sinnlos. Nur zwischen europäischer Zukunft und nationalsozialistischer Vergangenheit läßt sich eine deutsche Identität bestimmen, die weder selbstverleugnerisch noch selbstbezüglich und eitel ist.

Wie eng Vergangenheit und Zukunft verknüpft sind, belegte Jürg Altwegg mit einer Beobachtung aus der Schweiz: Dort lasse sich die Öffentlichkeit – wie überall – nicht mehr in „Links“ und „Rechts“ einteilen. Eher gebe es eine Fraktion der Vergangenheitsverdränger, die zugleich auch Europagegner seien, und eine der Aufarbeiter von Geschichte, die auch dem Europagedanken gegenüber offener seien. Nur ein freier Umgang mit der Vergangenheit erlaubt unbelastete Kommunikation. Europa ist nicht geeignet, den eigenen nationalen Vergangenheiten in eine geschichtslose Zukunft hinein zu entkommen. Gerade dort wird jedes Land befragt werden, wie es sich zu seiner Vergangenheit verhält.

Die europäische Zukunft allerdings ist bisher nur ökonomisch als Währung und Markt definiert. Politiker nehmen sie im Vertrauen auf die marxistische Erkenntnis in Angriff, daß das Sein dann schon irgendwann das Bewußtsein verändern möge. Die Intellektuellen als Arbeiter am Überbau einer arbeitsteiligen Gesellschaft sehen das naturgemäß anders. Sie werkelten in Berlin schon einmal ein wenig am Ideellen. Sie hinterließen dabei den Eindruck von Kindern, die im Spielzimmer mit Bauklötzchen basteln. Denn über das emphatische Bekenntnis zu den Menschenrechten als notwendiger Ergänzung des Euro reichten ihre Bemühungen kaum hinaus. Intellektuelle sind nun mal Spezialisten fürs Universelle. Deshalb rufen sie nach verbindlichen Werten und vermitteln notgedrungen den Eindruck von fachlicher Unkenntnis. Wenn der Erfolg dieses Kongresses, wie der Generalsekretär des Goethe-Institutes, Joachim Sartorius, forderte, daran zu messen ist, daß Intellektuelle zur Vereinigung Europas etwas zu sagen haben, dann kann man daraus nur eine Lehre ziehen: Die Zeit der Intellektuellen als universale Mahner ist abgelaufen.

Manche postieren sich allerdings telegen zum letzten Gefecht. Wie mittelalterliche Strafprediger geißeln sie die Verweichlichung Europas: „Eine Kultur, deren Credo sich im Fall der Bedrohung mit der Formel ,Null Tote‘ zusammenfassen läßt, bleibt im höchsten Fall erpreßbar“, sagte Peter Schneider – womit er doch wohl meinte, daß Tote im Kampf für die eigene Sache in Kauf zu nehmen sind. Noch deutlicher tönt diese Haltung aus den Züchtigungen André Glucksmanns, der nicht müde wird, das „blinde, egoistische, träge und verfettete Europa der Schweine“ zu geißeln und dessen Versagen in Bosnien anzuprangern: die faule Unselbständigkeit und das bequeme Hoffen auf Väterchen Amerika.

Glucksmann beklagt wortreich, daß es keine Werte mehr gebe, für die die Menschen bereit seien, sich zu opfern. Da möchte man am liebsten gleich den Raum verlassen und den nächsten Schützengraben aufsuchen, um schon jetzt alle zukünftigen Kriege prophylaktisch zu verhindern. Wie übermütige albanische Demonstranten sieht man dann die Menschenrechtskämpfer vor sich, theatralisch mit ihren Moral-Maschinengewehren in die Luft schießen – im festen Wissen um das Gute und Wahre. Das ist dann hoffentlich das letzte Gefecht des klassischen Intellektuellen. Vielleicht hält man es in Zukunft ja doch lieber mit György Konráds freundlicheren Träumen.

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