piwik no script img

Der einzige Orthodoxe

■ Der Bremer Landesrabbiner Benyamin Barslai wird 75 Jahre alt / Seit seinem Amtsantritt wuchs die Gemeinde von 135 auf fast 900 Mitglieder / Ein Portrait

Der Rabbiner wird von seinem Ischias-Nerv geplagt. Wenn Benyamin Barslai etwas erhöht auf seinem Bürostuhl sitzt, die Hände über seinem gemütlichen Bauch verschränkt, bewegt er sich eher spärlich. Alle drei Monate geht er zum Arzt und läßt sich eine Spritze gegen Schmerzen verpassen, das letzte Mal erst vor ein paar Tagen. Damit dürfte er gut durch die Feiern zu seinem Geburtstag kommen. Morgen, am 9. Dezember, wird der Bremer Landesrabbiner 75 Jahre alt.

Das Alter merkt man ihm kaum an. Sicher, inzwischen ist er nur noch 1,64 Meter groß - früher waren es drei Zentimeter mehr. Manchmal fällt ihm ein Name nicht sofort ein. „Aber die Studenten halten mich jung“, sagt er. An der Bremer Universität gibt er als Honorarprofessor im Fachbereich Religionswissenschaften Judaistik-Kurse. Und er führt eine Gemeinde, die seit seinem Amtsantritt in Bremen vor 13 Jahren von 135 auf fast 900 Mitglieder gewachsen ist.

Geboren wurde Barslai am 9. Dezember 1923 in Mannheim. Die Familie zog ins badische Sulzburg, dann, mit dem fünfjährigen Barslai, nach Bensheim. Der Vater war Vorbeter und Religionslehrer in den Jüdischen Gemeinden und Vertreter des Südhessischen Landesrabbiners. Schon vor ihm waren die Männer seiner Familie, vom Chassidismus geprägt, Rabbiner. Auch Barslais Sohn ist Landesrabbiner in Hamburg und Schleswig-Holstein geworden. Erst der Enkel wird wohl die Tradition brechen – er studiert Zahnmedizin.

„1935 sind wir aus Deutschland abgehauen – Gott sei Dank“, sagt Barslai. Ein Großteil der Familie emigrierte nach Palästina. Der polnische Teil der Verwandschaft kam im Holocaust um. Zwischen 1935 und 1961 studierte er Rabbinistik in Bene-Berak, Haifa und Jerusalem, heitatete 1946 seine Frau Malka Ofner, leistete Militärdienst und wurde Vater von zwei Kindern.

Deutschland besuchte er erst 1961 wieder. Auf der Rückreise von einer Rabbinistik-Veranstaltung entschloß er sich, das Land seiner Jugend zu besuchen. “Das war eine spontane Idee. Ich wollte mir anschauen, wo ich zur Schule gegangen bin, alte Freunde besuchen“, sagt Barslai. Am Sabbat, in der Synagoge in Frankfurt am Main, wurde er gefragt, ob er in Deutschland bleiben wollte. „Sie brauchten Religionslehrer, Vorbeter, Rabbiner – einfach alles, weil sie keinen deutschsprachigen Nachwuchs hatten.“ Er ließ sich überreden, es für ein Jahr zu versuchen. „Aus einem Jahr wurde noch ein Jahr – zuerst kamen die Essener, 1965 die Saarbrückener, und so ging es weiter.“ An der Saarbrückener Universität wurde er der erste Studentenrabbiner nach dem zweiten Weltkrieg, nebenbei promovierte er. Eine Gemeinde in Schweden (“Schön, aber kalt“) warb ihn ab. 1971 überredeten ihn die Schweizer, in das Alpenland zu kommen – mit dem Argument, im Süden sei es wärmer und der Winter kürzer. 1982 wurde er Direktor einer Stiftung in Frankfurt. Drei Jahre später wurde er nach Bremen als Landesrabbiner abgeworben. Ein bewegtes Leben, wortwörtlich.

Wie er das Nachkriegsdeutschland empfunden hat? An eine Situation erinnert er sich. Sein Sohn wurde in der Schule als Jude beschimpft, der Vater des Schülers wurde einbestellt – wie sich herausstellte, ein Ex-Gestapo-Mann. Die Väter redeten miteinander. „Sie sehen gar nicht aus wie ein Jude“ sagte Barslais Gegenüber. „Da habe ich ihm Kaffee und Kuchen gegeben und ihn danach weggeschickt.“ Ansonsten hatte er nie Probleme, sagt er. Zumindest will er nicht darüber reden. Plattitüden zur deutschen Schuldbefindlichkeit will Barslai vermeiden: „Ein Feld für Psychologen“.

Seine Bremer Gemeinde wuchs mit dem Zuzug der „Kontingentflüchtlinge“ aus Osteuropa rapide an. Die Deutschkurse der Volkshochschule finden in Gemeinderäumen statt – eine der wenigen Möglichkeiten, mit den Zuzüglern ins Gespräch zu kommen. In vielen Fällen sei die jüdische Lebensweise verloren gegangen. Der Versuch der Reintegration in den jüdischen Glauben sieht Barslai als „Herausforderung, der man sich stellen muß“.

Ebenfalls als Herausforderung, mehr im Sinne von Provokation, empfindet Barslai, daß im 45 Kilometer entfernten Oldenburg eine Frau den jüdischen Gottesdienst leitet. Bea Wyler ist wenig akzeptiert von den orthodoxen Rabbinern der Deutschen Rabbinerkonferenz. Auch Barslai hat Probleme mit einer Frau an der Spitze der Gemeinde. „Das ist keine Gemeinde, sondern ein Witz. Das ist kein Judentum“, urteilt er über seine Oldenburger Kollegin.

Seine Abwehr beruht vor allem auf der Haltung, daß er glaubt, die jüdischen Gemeinden in Deutschland könnten sich keinen Streit zwischen den verschiedenen Richtungen des Judentums erlauben, wenn sie nicht die Spaltung riskieren wollen. Sicher, früher konnten sich Gläubige die religiöse Ausrichtung ihrer Synagoge aussuchen – es gab genug davon. Eine Geschichte fällt ihm ein: Ein Jude erleidet Schiffbruch und strandet auf einer einsamen Insel. Erst nach zehn Jahren entdeckt ihn ein Schiff. Der Kapitän sieht: Da stehen zwei Synagogen. ,Sag mir, warum hast Du zwei Synagogen gebaut?' fragt der Kapitän den einzigen Bewohner der Insel. Der Jude zeigt auf die eine und sagt: ,In die gehe ich nicht'.

Heute aber, mit wenigen Angeboten für jüdischen Gottesdienst, müsse es allen Juden, auch den streng Gläubigen, möglich sein, in jeder Synagoge den Sabbat zu feiern. „Es gibt eine Linie – und an die muß man sich halten. Wenn wir die Linie verwässern, dann bleibt nichts mehr.“ Streng orthodox ist er, keine Frage. Auch wenn er seine Orthodoxie als eine „normale, keine verrückte“ beschreibt. Mit seiner Orthodoxie steht er in seiner Bremer Gemeinde alleine da, doch damit kann er leben: „Ich und meine Frau sind die einzigen Orthodoxen in Bremen“, sagt er.

Christoph Dowe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen