: Liste des Grauens
■ Auch in der Musikwissenschaft bringt sich die NS-Vergangenheit in Erinnerung: Willem de Vries' Buch über den "Sonderstab Musik"
Zumindest zwei Berufsgruppen haben nach 1945 in Deutschland erreicht, daß in der Öffentlichkeit wenig beziehungsweise ohne nennenswerte Konsequenzen über die Verstrickung ihrer zuvor hervorgetretenen Repräsentanten diskutiert wurde: die Juristen und die Musikwissenschaftler. Durch ein eben erschienenes Buch von Willem de Vries über den „Sonderstab Musik“ des „Reichsleiters Rosenberg“ und seine organisierten Plünderungen in den Kriegsjahren wurde die Diskussion über die deutsche Musikpolitik in den Jahren der nationalsozialistischen Erhebung und Hybris wieder etwas angefacht.
Der niederländische Autor hebt in seinen Fallstudien einen der heute noch lebenden Täter hervor: Wolfgang Boetticher, Mitautor des 1940 erschienenen „Lexikons der Juden in der Musik“. Diese Nachschlagliste diente als Grundlage für Verhaftungen, zur Deportation jüdischer Tonkünstler und zu ihrer Enteignung, insbesondere zum gezielten Raub wertvoller Instrumente. In Spalte 39 jenes ominösen Lexikons findet sich der Eintrag: „Braunfels, Walter (H) * Frankfurt/M. 19.12.1882; Prof[essor], Komp[onist] (u.a. Oper „Die Vögel“), Pian[ist], D[iri]g[ent]; 1925/33 Dir[ektor] der Musikhochschule Köln.“ (H steht für „Halbjude“). Das Ende der Tätigkeit an der Hochschule war der „Machtergreifung“ geschuldet. Braunfels wurden, wie seinen Leidensgenossen, auch die übrigen Einnahmequellen entzogen. Er überlebte in einem Gartenhäuschen am Bodensee.
Nicht überlebt hat sein Werk, an das man sich jetzt in Köln wieder erinnert: An das Märchenspiel „Die Vögel“, entstanden vor, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, 1920 in München durch Bruno Walter zur Uraufführung gebracht und auch danach bei einem großen Publikum höchst erfolgreich. Es ist ein Werk in der deutschen Spielopern-Tradition mit leicht anachronistischem Ton und ohne alle grellen Modernismen. Der konservative Braunfels wollte und erzielte ein Stück „Mittelgut“ für ein mittleres Publikum. Das Libretto stützte sich für eine durchaus aktuelle, allerdings sehr diskret verpackte „Botschaft“ auf eine heiter-polemische Arbeit, mit der Aristophanes im Jahr 414 vor Chr. den Supermacht-Träumen einiger Politiker seiner Heimatstadt Athen entgegentrat: nicht in technisch-militärischen Abenteuern sollte das Glück gesucht und die Gottheit nicht herausgefordert werden. Eine solche Botschaft war 1913 so aktuell wie 1923, als mehrere Bühnen „Die Vögel“ präsentierten, oder 1933, als diese Oper von den Spielplänen verbannt wurde.
Trotz eines konzertanten Versuchs in Berlin und zwei unzureichenden szenischen Realisierungen (1971 in Karlsruhe und 1991 in Bremen) hatten die Wiederbelebungsversuche bislang wenig Erfolg. Nun wurde die neue Kölner Inszenierung mit farbenprächtigen, sinnenfrohen Dekorationen und ansprechenden Vogelkostümen bedacht, das Ganze von David Mouchtar-Samourai ungebrochen als Märchenspiel genommen. Musikalisch geriet es unter Leitung von Bruno Weil leider wiederum nur bedingt zufriedenstellend. So bleibt fraglich, ob sich dieses Werk überhaupt reaktivieren läßt. Dabei lohnte die Geschichte vom luftig- bunten Vogel-Völkchen, das auf Empfehlung zweier „Aussteiger“ aus der menschlichen Gesellschaft hin im Himmel ein Erdenreich errichten, durchaus eine weitergehende Regie-Anstrengung. Die hybriden Geschöpfe beschwören den Krieg mit den Göttern herauf und stürzen in die Katastrophe; die fatalen Ratgeber aber, die Schreibtischtäter, kommen so gut wie ungeschoren davon.
Das ist wie im wirklichen deutschen Leben. Das Buch von Willem de Vries ruft nachdrücklich in Erinnerung, daß nicht nur in den Grenzen von 1937 das Eigentum geflohener oder verschleppter Juden beschlagnahmt und gestohlen wurde, sondern auch in den eroberten und besetzten Ländern, gedeckt von den Waffen der Wehrmacht, auf Geheiß oder mit Duldung der Partei- und Staatsspitze konfisziert und „heim ins Reich“ geschafft wurde: „Die Nazis plünderten rund 16 Millionen Kunstwerke in ganz Europa. Nur wenige wurden danach wieder zurückgegeben.“ Der niederländische Musikforscher untersuchte schwerpunktmäßig die Tätigkeit eines „Sonderstabs Musik“ beim „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR), dem die Schlüsselrolle beim systematischen Kunstdiebstahl von „Judenmaterial“ zufiel. Allein in den Niederlanden, Belgien und Frankreich wurden wenigstens 6.000 Flügel, Cembali und Spinette geraubt (etliche davon unter persönlichem Kommando von Wolfgang Boetticher). Zum Verständnis der Arbeitsweise der Parteiinstanz ERR entwickelte de Vries zunächst einen kurzen Abriß der Strukturen deutscher Musikpolitik vom Ende der zwanziger bis zu den vierziger Jahren, gibt Hinweise zur Biographie Alfred Rosenbergs sowie zu den Machenschaften dieses Ideologen, Chefredakteurs, Reichsleiters und Reichsministers für die besetzten Länder Osteuropas (er wurde in Nürnberg gehenkt).
Zu den Hilfswilligen, die sich offensichtlich als „ausgezeichnete Sachkenner und als instinktsichere Nationalsozialisten“ bewährten, gehört der erwähnte Boetticher. Er lebt heute als emeritierter Professor der Musikwissenschaft in Göttingen. Zwar wurde bereits auf die NS-Vergangenheit und die offenkundige Unbelehrbarkeit dieses Schumann-Forschers hingewiesen, auch auf dessen Verschleierungskunst nach 1945 und seine zur Verhinderung der Wahrheitsfindung im Wissenschaftsbetrieb inszenierten Repressalien. Selbst in der Öffentlichkeit war er nicht zimperlich. Als ihm 1981 beim 1. Düsseldorfer Schumann-Fest die Fragen eines Journalisten zu unbequem wurden, versuchte er, das Band aus dem Aufnahmegerät zu reißen, und zertrümmerte bei dieser Gelegenheit den Plexiglas-Deckel; dabei zog er sich wohl jene ominöse „Handverletzung des Handlangers“ zu, die durch den US-Musikologen Christoph Wolff bekannt wurde.
Durch das Buch von de Vries wurde eigentlich aller weiterer Kunst des Wegsehens und Wegdenkens bezüglich der Verstrickungen Boettichers, aus dessen Institut eine Reihe der namhaften Musikwissenschaftler der alten Bundesrepublik hervorgingen, ein Riegel vorgeschoben.
Doch die Universität Göttingen, an der der 84jährige „Altdekan“ noch immer Vorlesungen abhält, sah bislang keinen Anlaß (oder keine Möglichkeit), dem starrsinnigen Schreibtischtäter wenigstens dieses öffentliche Podium zu entziehen. Gewiß, die Eigentumsdelikte des Prof. B. sind verjährt; die Folgen der auch von diesem Handlanger eines verbrecherischen Systems ausgehenden Repressionen sind es nicht. Die neue Runde einer in Deutschland wieder fälligen Debatte wird sich nicht so rasch beruhigen. Frieder Reininghaus
Willem de Vries: „Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940–45“. Dittrich Verlag, Köln 1998, 49,80 DM
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