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Erweitern und vertiefen

■ Die Lösung der politischen Probleme Europas erfordert eine Schwächung der Nationalstaaten zugunsten des EU-Parlaments

Als kürzlich eine spanische Freundin einen Deutschen heiraten wollte, gelang ihr dies problemlos nur in Dänemark. Die spanischen und deutschen Behörden hatten von den beiden Stammbäume, einen von zwei Zeugen versicherten Ledigkeitsnachweis und Geburtsurkunden verlangt. Natürlich in der jeweiligen Landessprache. Und selbstverständlich in beeidigter Übersetzung. Dem dänischen Standesbeamten hingegen genügte ein Nachweis, daß die beiden drei Nächte in Dänemark übernachtet hatten.

In knapp drei Wochen bekommen die Bürger eine gemeinsame Währung, doch gemeinsame staatsbürgerliche Grundrechte und eine gemeinsame Politik verbinden sie nicht. Ihre Staats- und Regierungschefs konnten sich bislang weder auf eine gemeinsame Verfassung einigen noch auf eine demokratisch legitimierte Mitbestimmung der Europäer in ihrer Union. Zwar haben sich die Mitgliedstaaten im Vertrag von Amsterdam darauf geeinigt, die EU zu reformieren und bürgernäher zu gestalten. Aber dies wird wenig daran ändern, daß der EU, als reiner Wirtschafts- und Währungsverbund angelegt, eine politische Klammer fehlt. Eine Chance diese anzulegen, haben die EU-Staaten mit der Erweiterung der Union bekommen. Jahrelang galt der europäische Lehrsatz: „Entweder erweitern oder vertiefen“. Doch die ost- und südosteuropäischen Staaten können nur aufgenommen werden, wenn die EU sich vorher mit sich selbst beschäftigt hat.

Die Vergangenheit zeigt, daß sich allein mit wirtschaftlicher Prosperität die politischen Probleme nicht lösen lassen. Erst wenn die EU zu einer gemeinsamen Außenpolitik in der Lage ist, gibt es zumindest eine Chance, die Krisen an den Außengrenzen – zum Beispiel dem Balkan – zu lösen. Auch im Inneren der EU gibt es hinreichend Konflikte, die nur durch eine gemeinsame Strategie überwunden werden können. Das fängt bei der Rinderseuche BSE an und reicht bis zur Massenarbeitslosigkeit in einigen Regionen.

Auch der erstarkende Nationalismus und offene Rassismus bedrohen die Idee einer Europäischen Union. Dieser Gefahr werden die EU-Staaten nur entgegentreten können, wenn es gelingt, gemeinsam die Ideologie des Nationalstaats abzubauen. Aber die Entwicklung verläuft anders. Proportional zum Einfluß der europäischen Institutionen auf die sich bislang noch souverän wähnenden Staaten wächst der Wunsch nach der Macht des Nationalstaats. Eine Chance hat die EU aber nur, wenn ihre Souveränität von allen Mitgliedsländern anerkannt wird.

Das Europäische Parlament muß also gestärkt werden und die Rechte bekommen, die nationale Parlamente gemeinhin ausüben, wie zum Beispiel Gesetzesvorlagen einbringen und den Haushalt beraten und beschließen. Ein Parlament für Europa sollte sich jedoch auch aus Europäern zusammensetzen, nicht aus Abgeordneten vieler Kleinstaaten. Es ist an der Zeit, daß Parteien länderübergreifend Wahllisten erstellen und die EU-Abgeordneten europaweit gewählt werden können. Wenn eine Europaabgeordnete aus Potsdam sich für die Textilarbeiterinnen in Portugal einsetzt, bringt ihr das bislang in ihrem Wahlkreis keine einzige Stimme. Wenn andererseits ein Andalusier für die Förderung der ostdeutschen Länder im EU-Parlament eintritt, bekommen das die Nutznießer in Brandenburg gar nicht mit. Der Abschied vom Landesproporz täte auch der EU-Kommission gut. Ihre Mitglieder arbeiten zwar bereits für alle 15 EU-Staaten an einem vereinten Europa, dennoch umweht sie nationaler Stallgeruch. Der Mief ließe sich einfach abstreifen, wenn nicht mehr die Länder die Kommissare entsenden, sondern sie das EU-Parlament wählen würde.

Ein föderatives Europa, in dem Nationalitäten keine Rolle mehr spielen, wird um so wichtiger, je mehr Staaten der EU beitreten. Die Sitze im EU-Parlament sind auf 700 begrenzt, eine Zahl, die – den bisherigen Verteilungsschlüssel vorausgesetzt – mit dem Beitritt Polens erreicht ist. Seit dem 10. November verhandeln die Beamten der EU-Kommission aber bereits über das Wie des Beitritts fünf osteuropäischer Staaten und Zyperns. In maximal sechs Jahren werden diese Länder Mitglied der EU sein. Bei ihnen darf und wird es nicht bleiben.

Die Balkanstaaten gehören ebenso zu Europa und damit in die EU wie Lettland oder Litauen. Zypern wird erst dann der EU beitreten können, wenn der Konflikt um die Insel zwischen Griechenland und der Türkei beigelegt ist. Das jedoch setzt voraus, daß der Türkei möglichst schnell eine sichere Zusage für ihren Beitritt gemacht wird. Das Land mögen zwar tektonische Platten von Europa trennen und bislang auch noch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Aber vor 20 Jahren konnte sich auch niemand vorstellen, daß Spanien in kürzester Zeit eine gefestigte Demokratie mit funktionierender Marktwirtschaft, Gewaltenteilung und autonomen Regionen sein würde. Und obgleich das Land in der christlich- abendländischen Tradition verhaftet ist, wehte der Geist der Aufklärung bis Ende des 20. Jahrhunderts nur sehr lau über die iberische Halbinsel. Das ist in der Türkei nicht viel anders. Wer kleinmütig darauf verweist, daß die Türkei moslemisch ist, sie daher nicht nach Europa paßt, verprellt damit gleichzeitig Bosnien. Doch aus welchem Grund sollte Bosnien nicht der EU beitreten?

Europa hat keine Grenzen, außer die selbst gesteckten. Die so weit wie möglich auszudehnen liegt im ureigensten Interesse der EU und ihrer Bürger – nicht nur zur Sicherung des Wirtschaftswachstums und des Lebensstandards. Jede Erweiterung der Föderation hat bislang zum Wohlergehen der Volkswirtschaften beigetragen und damit das politische Gleichgewicht innerhalb der Länder und in Europa gestärkt. Wirtschaftsexperten sind sich einig, daß Europa die einzige Region der Erde ist, die in den kommenden Jahren ein stabiles Wirtschaftswachstum aufweisen wird.

Auch politisch liegt in der Erweiterung der EU eine Chance. Sie zwingt die Staaten sich mit sich selbst zu beschäftigen und die in der Agenda 2000 und dem Vertrag von Amsterdam skizzierten Reformvorschläge für ein demokratisches Gesamteuropa auszuarbeiten und umzusetzen. Nur wenn die EU erweitert wird, werden die Kompetenzen der EU-Institutionen vertieft. Deutschland hat ab dem 1. Januar, wenn es den Vorsitz im EU-Ministerrat übernimmt, die Möglichkeit diesen Prozeß der gleichzeitigen Erweiterung und Vertiefung voranzutreiben. Ulrike Fokken

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