: Im Osten was Neues?
Reparaturen und eine Neuentwicklung mit den Russen: Deutschlands Reaktorhersteller Siemens versucht in Osteuropa das fehlende Westgeschäft zu kompensieren ■ Von Karl Ammansberger
Berlin (taz) – Mit einem Aktionstag wollen heute Umweltschutzgruppen u.a. aus der Ukraine, Rußland und Deutschland gegen den Bau ukrainischer Atomkraftwerke protestieren. Denn Geld für die Atomkraft im Osten fließt weiter reichlich. Mitfinanziert durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) sollen die Anlagen Khmelnitzki-2 und Rowno-4 unter Beteiligung der Siemens AG fertiggestellt werden (taz vom 9.12. 1998).
Anläßlich des neuen Vorstoßes von Siemens, in Osteuropa Atomgeschäfte zu machen, hat der Koordinationskreis Siemens-Boykott die Aktivitäten des Atomkonzerns im Osten untersuchen lassen. Wesentlich langsamer als gedacht kommen die Erlanger Reaktorbauer ins Geschäft. Mit Beharrlichkeit ist es Siemens dennoch gelungen, Stück für Stück in den Osten vorzudringen. Im September 1998 meldete der Konzern, daß er „als einziges westliches Unternehmen Leistungen für den gesamten WWER-Kraftwerkspark der osteuropäischen Staaten anbieten“ könne. Dazu gehören die beiden ersten AWK-Generationen mit einer Leistung von 440 Megawatt, die neueren und leistungsstärkeren WWER-1000- Anlagen und der neuentwickelte Typ WWER-640, der bisher nur auf dem Reißbrett existiert.
Der Markt ist groß. 44 WWER- Reaktoren könnten nach Siemens- Angaben modernisiert werden, weitere 18 sind im Bau. Den Auftragswert für die Nachrüstung aller WWER-Reaktoren schätzte der Siemens-Atommanager Wulf Bürkle 1996 auf 15 Milliarden Mark. Der erste größere Einstieg gelang den Deutschen 1996 in Mochovce in der Slowakei. Der Schlüssel für die Realisierung von Nachrüstungen in Osteuropa ist vor allem deren Finanzierung. So blieben langwierige Verhandlungen mit der EBRD bei Mochovce letztlich erfolglos. Dafür sprang die Bundesregierung mit einer Hermes-Bürgschaft über 146 Millionen ein. Sie stellt sicher, daß im Zweifelsfall die deutschen Steuerzahler den Siemens-Anteil finanzieren.
Im Falle Mochovce wurde die Bürgschaft an die Bedingung geknüpft, daß ein wie auch immer definierter westlicher Sicherheitsstandard eingehalten und die international höchst umstrittenen Anlagen der ersten Generation im Bohunice stillgelegt werden. Hier beginnt, was die Siemens-Gegner die „Abschaltungslüge“ von Bohunice nennen. Parallel zum Mochovce-Auftrag gelang es Siemens nämlich, 40 Prozent eines Auftrags über 275 Millionen zur Nachrüstung der beiden Blöcke von Bohunice an Land zu ziehen, der in den Jahren 1996 bis 1999 abgearbeitet werden soll. Unwahrscheinlich, daß schon kurz nach der millionenschweren Nachrüstung die endgültige Abschaltung verfügt wird – um so weniger, als mögliche Atomstromlieferungen in den Westen gebraucht werden, um die Devisen zur Bezahlung der Siemens- Lieferungen zu erwirtschaften.
Auch bei Neubauprojekten möchte sich Siemens ein Stück vom Kuchen sichern. Unterstützt von der bayerischen Staatsregierung feilte eine bayerisch-russische Arbeitsgruppe an dem neuen Reaktor WWER-640. Zur Finanzierung der Siemens-Ingenieursarbeiten nahm das Bayernwerk während der Entwicklungszeit jährlich für 15 Millionen Mark Brennelemente-Lieferungen aus Rußland ab. Der Prototyp des neuen Meilers soll am unfallträchtigen Standort Sosnovy Bor in der Nähe von St. Petersburg errichtet werden.
Selbst für den Weiterbetrieb von Reaktoren des Tschernobyl- Typs (RBMK) machen die Atomkraftgegner den Erlanger Konzern verantwortlich. Mit der Beteiligung an einer 400 Millionen US- Dollar teuren Hochspannungsleitung von Litauen durch Polen in den Westen schaffe Siemens Voraussetzungen für den Weiterbetrieb der beiden berüchtigten Blöcke in Ignalina. Wie schon einmal bei Mochovce/Bohunice soll für fünf Pfennig pro Kilowattstunde der Strom Richtung Westen fließen. Und das zehn Jahre lang! Undenkbar auch in diesem Fall, daß zu Beginn des neuen Jahrtausends das AKW abgeschaltet wird, wie es die EBRD für einen Kredit 1994 gefordert hatte.
Diese Aktivitäten rufen die Siemens-Boykotteure nicht nur in Deutschland auf den Plan. Parallel zu den Vorstößen von Siemens in den mittel- und osteuropäischen Staaten starteten schwerpunktmäßig in Rußland und der Slowakei Aktionen zum Boykott von Siemens-Produkten. Damit es dabei bleibt, daß das Atomgeschäft bei Siemens für 2 Prozent des Umsatzes, aber 90 Prozent des Ärgers sorge, so Kampagnensprecher Henrik Paulitz.
Infos zum Aktionstag: IPPNW, Koord.kreis Siemens-Boykott: (06221) 75 88 77, (030) 204 47 84, BUND (0228) 400 97-0. Hintergrundbroschüre „Siemens Nuklear“ (42 Seiten) unter Fax: (030) 204 47 85
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