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Sechs Klapperschlangen am Rheinfall

■ „Zur Dialektik von Mythos und Musik“: 8.Tagung der projektgruppe neue musik

Egal ob es sich nun um die vom amerikanischen Straßenalltag gesättigte Opulenz von Charles Ives handelt oder um die mathematische Strenge Schönbergs: Die klassische Moderne beschießt ihre Hörer mit einer solchen Fülle von Impulsen, daß die Mehrheit wegduckt wie unter lebensgefährlichen MG-Salven. Beim Weihnachtseinkauf im Kaufhaus wird der Ansturm unentwirrbarer Eindrücke zwar heftigst geliebt, im Konzertsaal aber von der breiten Masse gehaßt.

Alte und neue Komponistengeneration, hier Penderecki, dort von Bose, bemühen sich um die Rückeroberung der Zuhörerherzen durch Andocken an den Zeitgeist mit postmodernen Stilmixturen. Die achte Tagung der „projektgruppe neue musik bremen“ zeigt zwei ganz andere, viel spannendere Auswege aus dem Dilemma der Überstrukturierung: Motorik und Meditation. Iannis Xenakis läßt die sechs Percussionisten in „Persephassa“ (1969) von kompliziertesten Rhytmusmusterungen immer wieder ausbrechen in brachiale Klanggewitter. Sie bringen die Kirche Unser Lieben Frauen fast zum Einstürzen und lassen den Emporenboden fast wie ein ergänzendes Trommelfell mitschwingen. Ein Blick zum löchrigen Gewölbe erzeugt schaurigschöne Katastrophenängste. „Das rockt“, meinte ein Gast bei der dritten Podiumsdiskussion. Vielleicht rockt es ja parallel zu den schnelleren, weniger swingenden, eben eher rockenden Interpretation, mit der seit Neustem Vivaldi, Corelli etc. bedacht werden.

In „Persepolis“ dagegen schwimmt Xenakis in einem einzigen Klangmeer. Impulse gibt es nicht mehr. Nur noch schleichende Umfärbungen und Strömungen. Ein wärmender Golfstrom ist nicht darunter. Bei Julio Estradas monochromem Klangmeer namens „Euaon I“ lärmte es gleich so viel um (das) Nichts, daß sich gar mancher die Ohren zuhalten mußte wie Odysseus bei den Sirenen (oder doch wohl eher wie im Popkonzert).

In diesen Hörbeispielen ist die gängige Subjekt-Objekt-Antinomie zwischen Rezipient und Kunstwerk aufgelöst. Der Hörer hockt den Musikern nicht mehr in kritikfähiger Distanz gegenüber, sondern wird von Tonquellen umzingelt. Es ist die totale Umarmung des Babys in der Gebärmutter oder des Sklaven in der Diktatur. Wie Mark Rothkos riesenformatige, betrachterverschlingende „colour field paintings“ bemüht sich diese Musik um die Vereinnahmung der ganzen Person mit Hilfe allergrößter Einfachheit. Ornament ist Verbrechen.

Weil auch der Mythos als eine Form der Umarmung und Vereinnahmung (hier seitens der Gesellschaft) gedeutet werden kann, untersuchte diese Tagung das Verhältnis zwischen Mythos undMusik. Micha Brumlik, der Frankfurter Erziehungswissenschaftler, der auch für diese Zeitung schon über alles und jedes nachdachte, verrannte sich mit Unterstützung von Platons Politeia in einer langweiligen Definition des Mythos. Der Mythos, meint Brumlik, bewahre just jene Leidenschaften, Irrationalitäten, Zerrissenheiten des Menschen in sich auf, die ein aufgeklärt, rational und monotheistisch zurechtkonstruierter Staat nur allzu gerne beseitigt wissen möchte. Doch wären dann nicht die soap operas des Fernsehens die perfekten Mythen unserer Zeit, wenn es nur um die Leidenschaft ginge? Müßte man dann nicht Andrew Lloyd Webber hier untersuchen statt Xenakis? Auch ist es gewagt, den Monotheismus mit seinem vorbildhaften, guten, wahren Gott dem Mythos als Opposition gegenüberzustellen. Als hätte nicht auch in der Bibel die pralle Lebensrealität mit allen erdenklichen Leidenschaften ihren Platz.

Im letzten Punkt jedenfalls folgte die Tagung Brumlik. „Unsere“ christlichen Mythen kamen hier nicht vor. Bis auf eine Ausnahme thematisierte man griechische Mythen. Daß ein Roland Barthes in seinen „Mythen des Alltags“ mal zeigte, wie sehr auch hier und heute Mythen (im Sinne von schwachsinnige Vorurteile) fabriziert werden, etwa in der Konservierung von Einsteins Gehirn (als hätte Intelligenz etwas mit der Zahl dessen Windungen zu tun) oder im skurrilen Requisitenzauber im modernen Regietheater (als wäre Kreativität angewiesen auf Überraschungen), davon wollte diese Tagung nichts wissen. Mythos ist Homer, Punkt.

Strukturell allerdings folgten die Musikbeispiele zum Glück kaum Brumliks Idee vom leidenschaftlichen, menschelnden Mythos. Im Gegenteil. Viele ruhige Stücke verführten viele Zuhörer zu einem kontemplativen Hören, das mit geschlossenen Augen „das Andere“ sucht. „Nicht deklamatorisch, nicht psychologisierend spielen“, forderte der Klassedirigent Bernhard Wulff für Xenakis Persephassa, sonst degeneriert es zu Orff.

Viel spannender waren denn auch die formalen Analogien zwischen Mythos und Musik, auf deren Fährte Claude Levi-Strauss den bayerischen Komponisten Nikolaus Huber lockte. Der meinte, im Mythos ginge es immer wieder um das Zerstückeln und Zusammensetzen von Halbgöttern, um das Aneinanderreiben antagonistischer Mächte, um Erinnern und Verändern. Nichts anderes würden Komponisten von Palistrina bis Stockhausen mit ihrem musikalischen Material anstellen.

Und bald erwies sich, daß gerade jenes glibbrige Thema „Mythos“, das für die (noch erstaunlich zahlreich anwesenden) Fans von Adorno/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ so ganz andere Bedeutung hat als für einen marxistischen Überbautheoretiker oder für den Freund mythischer Popikonen wie Elvis, Marilyn und Madonna, bestens geeignet war als Katalysator für hochspannende Gespräche über Musik. Am tollsten aber waren die Konzerte: Wall of sounds, die das Herz jedes Heavy Metal-Liebhaber erweichen könnten, und traumhafte Stimmen. Vom Amerikaner James Tenney war ein Stück für großen Gong zu hören, das eine gigantische Klangmauer flutwellenartig immer näher auf den Hörer zuwallen läßt, und dann plötzlich ein trockenes Metrum gebiert: Zwei Ideen für ein ganzes Stück und Mut zur Überwältigung; ökonomischer geht es nicht. Doch der Effekt solchen Wirtschaftens ist pure Magie. Ganz wie in Steve Reichs „Pendulum music“. Drei lautsprecherverstärkte Pendel gehen ihrer Bestimmung nach und pendeln. Der große Schöpfer, Meister Zufall, erzeugt dabei immer neue Rhythmen. Und weil das Ohr ein erstklassiker Physiker ist und die Newtonschen Gesetze internalisiert hat, weiß es genau, was es als nächstes erwartet und wird ganz gelassen.

Auch der Kontrabassist und Komponist Stefano Scodanibbio erweist sich als Minimalist. Weil er mit seiner „Voyage that never ends“ Unendlichkeit (für Theologen: das ewige Leben dauert exakt 45 Minuten) beansprucht, kratzt er erst einmal zehn Minuten lang ein einziges Metrum in die Saiten. Musikalische Mantras werden detektivisch ausgehorcht mit Ernst, Würde, Gelassenheit, mit denen unsere Großmütter Rosenkranz beteten.

Auch Nicolas Huber hat keine Skrupel, vier Schlagzeuger ein Stück weit absolut synchron arbeiten zu lassen. Meist jedoch zeigt sich sein „Herbstfestival“ verliebt in die Nuancen. Am Ende habe er nochmal 55 neue Klangfarben auftreten lassen, erzählt er beim Podiumsgespräch. Und immer wieder schiebt er die Finger seiner Hände wie zwei Fächer ineinander, wenn er beschreibt wie sich Module gegeneinander verschieben.

So wie Huber minuziösest differenziert zwischen geraden, krummen oder schlangenlinigem Streichen über das Becken, so unterscheidet der chöömig-Sänger Nanjid Sengedorij zwischen vier verschiedenen Artikulationen des „m“ oder verwandelt ein „a“ in ein „o“ auf stets neuen Wegen. Die fünf buntglänzend gekleideten Gäste aus der Mongolei sangen nämlich zum Teil pure Lautgedichte, so wie Xenakis „N'Shima“ oder Scelsis „Canti“. In Sachen Minimalismus oder bei haarig-fasrigen Streichertöne, die sich dem Klassik-Ideal der Rundheit sperren, sind durchaus Parallelen zwischen Folklore und Avantgardemusik vorhanden. Deshalb brachte Wulff Mongolen und Moderne hautnah zusammen. Wie eine Säulenheilige ruhte die Sängerin in sich; als bräuchte sie keinen Körper, um ihren gewaltigen, gleichförmigen, unpsychologisierten Klangstrom zu zeugen. Und mitten im dämonischsten Grummeln tummelt sich bei ihrem Kollegen ein engelgleiches Pfeifen.

Oft führte der Weg in die tiefste Innerlichkeit über die Peripherie. Etwa wenn Estrada seinen vom Musikerkörper entbundenen Kontrabaß lange mit zwei Bögen nur indirekt am äußersten Rand streicht. Und gerade in den Momenten dezenter Ironie konfigurieren sich Bilder im Kopf: Wenn Huber ein tropfendes Hemd mit Claves-Geklöppel zusammenbringt, kann man Klapperschlangen am Rheinfall bibbern hören. Wo bleibt da der Mythos? Die Storyboards von „Kassandra“, „Persepolis“ etc müsse man nicht kennen, um die darauf bezugnehmende Musik zu verstehen: Das war bald common sense der Tagung. B. Kern

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