: Föderalismus oder Etatismus?
■ Bayern und Baden-Württemberg klagen gegen den Länderfinanz- ausgleich. Dahinter steht die Frage nach der zukünftigen Demokratie
Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Vor allem sein Föderalismus ist in zentralen Punkten falsch programmiert. Von einem demokratischen Gemeinwesen sollte man erwarten, daß die Bürger möglichst umfassend an ihm teilhaben können, daß es Antworten auf die großen Fragen der Zeit ermöglicht und daß sich die Regierungen den Wählern gegenüber verantworten müssen.
Von alledem kann hierzulande nur begrenzt die Rede sein. Ob der Frachter „Pallas“ im Wattenmeer havariert (Gemeinschaftsaufgabe Küstenschutz) oder die Studenten gegen die Lage an den Hochschulen streiken und dabei lauter offene Ohren, aber keinen Verantwortlichen finden, oder ob Politiker rechtzeitig vor der nächsten Wahl von Reformblockaden reden: Immer und überall sind andere oder alle gemeinsam, aber keiner so richtig zuständig und verantwortlich. Es herrscht ein Mangel an Kompetenz, eine Art organisierte Verantwortungslosigkeit.
Bayern und Baden-Württemberg haben vor einiger Zeit in Karlsruhe gegen den Länderfinanzausgleich geklagt. Dabei geht es nur vordergründig um die Frage, wieviel Geld zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern fließen soll. In Wahrheit steht der real existierende Föderalismus auf dem Prüfstand. Es geht um die Architektur eines zukünftigen demokratischen Gemeinwesens. Hinter der Frage, wie der Finanzausgleich für die Zeit nach 2004 aussehen soll, und jener nach Sinn und Unsinn von Gemeinschaftsaufgaben stehen elementare Prinzipien zur Debatte: Solidarität versus Wettbewerb; Gleichheit versus Differenz; Demokratie als zentrale Veranstaltung versus Selbstregierung der Länder, Gemeinden und Bürger. Diese Fragen werden künftig in fast allen Problemfeldern, von Bildung bis zum Sozialstaat, und in allen entwickelten Gesellschaften die Sphären des Erfolgs, der Demokratie und der Gerechtigkeit ausmachen.
Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, solidarischer Ausgleich zwischen den Ländern, und das alles durch eine verfassungspolitische Organisation der Demokratie, welche den nationalen Staat ausgebaut, den Ländern und Kommunen aber die demokratische Luft zum Atmen eingeschnürt hat: In diesen drei gutgemeinten Prinzipien kann man eine Art deutschen Konsens für die Regelung der öffentlichen Dinge erblicken. Diese Prinzipien aber haben dazu geführt, daß die meisten Ausgaben und Aufgaben der Kommunen „von oben“ festgezurrt sind, daß die Länder heute zwar bei über 50 Prozent der Gesetze des Bundes mitwirken, dafür aber die eigenen Freiheiten zur Gestaltung des politischen Lebens verkauft haben.
Zudem wird sich die Bundespolitik immer mehr darauf beschränken (und damit herausreden), die Ergebnisse internationaler Verhandlungen zu vollziehen. Nicht nur die EU, auch Bund, Länder und Gemeinden leiden unter einem Demokratiedefizit.
Es ist an der Zeit, den „unitarischen Bundesstaat“, als den der Staatsrechtler Konrad Hesse schon 1962 die Bundesrepublik beschrieben hat, in Frage zu stellen und eine verfassungspolitische Debatte zu beginnen: Wie kann man die Vorteile eines Wettbewerbs zwischen den Ländern nutzen, ohne die Verpflichtung der Stärkeren zur Solidarität zu leugnen? Wie kann man mehr Vielfalt haben, ohne doch jede Art von Ungleichheit zuzulassen (etwa dadurch, daß der Bund Rahmen, Grundsätze und basale Normen vorgibt)? Wie kann man eine starke Demokratie in Ländern und Gemeinden haben, ohne daß die Solidaritätshorizonte gleich am nächsten Kirchturm enden? Etwa dadurch, daß ihnen mehr politische Autonomie eingeräumt wird und auch auf Bundesebene direkte demokratische Interventionen von Zeit zu Zeit die Blockaden und Kartelle der Parteien durch einen Volksentscheid sprengen können? Alle Macht geht vom Volke aus – hin zu einer herrschenden Klasse, die dann korporatistisch zwar, aber auch ziemlich zentralistisch das Land regiert? Muß das das letzte Wort der Demokratie sein?
Man hat sich daran gewöhnt. Viele zweifeln, daß der deutsche Föderalismus reformierbar ist. Wer will überhaupt, daß sich etwas ändert? Keine Regierung trägt gerne Verantwortung. Diesem Umstand trägt das deutsche – und bald auch das europäische – System auf ideale Weise Rechnung. Den Beamten der Länder kommt es entgegen, wenn sie von niemandem gestört werden und in Bonn, Berlin und Brüssel mit ihresgleichen an der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse basteln. Niemand würde es auffallen, wenn die deutschen Landtage jeweils unmittelbar nach der Wahl des Ministerpräsidenten sich in Luft auflösen würden: die Länderministerkonferenzen würden weiter ungestört im Jahr 4.000 Seiten umfassende Beschlüsse fassen.
Die schleichende Zentralisierung des politischen Lebens ist in einem großen Konsens, ohne laute Einsprüche erfolgt. Die deutsche Vereinigung hat diese politische Kultur eher verstärkt. Was gibt dennoch Grund zur Hoffnung?
Es sind vor allem vier Punkte: Die Pathologien des Status quo lassen sich nicht länger übersehen. Sie sind nicht nur an den Hochschulen zu besichtigen. In die alten Strukturen und Gemeinschaftsaufgaben wird niemand gerne, egal wer wo regiert, das nötige neue Geld geben. Die Vielfalt in der einst homogenen deutschen Gesellschaft und das neue Lebensgefühl nicht nur junger Menschen machen, zweitens, zentrale, flächendeckende Programme immer weniger zielgenau. Ohne mehr Wettbewerb zwischen stärker dezentralen Strukturen bleiben politische Systeme, drittens, hinter ihren Möglichkeiten zurück, erodieren die Fundamente auch für sozialen Ausgleich. Auch in Demokratien droht der langsame Niedergang eines zentralistischen Systems.
Dagegen könnte, viertens, im positiven Falle, bei einer entsprechenden Verfassungs- und Demokratiereform, das deutsche Modell aufblühen – wenn es Wettbewerb mit Solidarität, Differenz mit Gerechtigkeit versöhnen könnte.
Die Neuregelung des Finanzausgleichs ist dabei nur der Einstieg in die Debatte über eine lebendigere Demokratie. Es wird sich zeigen, ob es CDU und CSU um mehr geht als um die finanziellen Vorteile der von ihnen regierten Länder; ob die alte SPD die etatistischen Schlacken ihrer Geschichte abzuschütteln vermag – der neuen Mitte zuliebe oder einfach, weil sie dazugelernt hat –; ob die Bündnisgrünen auch als Regierungspartei an einem demokratischen und sozialen Projekt interessiert bleiben, das von der Gesellschaft und nicht vom Staate her denkt. Warnfried Dettling
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