: Jedem sein eigenes Kaufhaus
Schon heute kann man via Internet fast alles kaufen. Vor allem Bücher und CDs lassen sich Netzshopper bislang ins Haus schicken. Doch der Gesamtumsatz der im Netz vertretenen Firmen ist noch vergleichsweise gering. Das soll bald anders werden. Marktforscher erwarten in naher Zukunft Jahresumsätze von bis zu 3,5 Billionen Dollar im Internet. Was sind die Chancen, was die Gefahren der schönen neuen Einkaufswelt? Zu den Hintergründen ein Wirtschaftsreport ■ von David Hiltermann
Kapitalisten lieben nur dann Revolutionen, wenn sie ihnen nützen. Eine solche kündigt sich an. Ihre Parole lautet: E-Commerce. Das ist die Kurzform für „Electronic Commerce“ und bedeutet das Wirtschaften über Datennetze. Wie bei jeder Umwälzung soll vieles besser, vor allem alles ganz anders werden.
Dabei weiß noch niemand genau, wann die Revolution stattfinden wird. „Wir sind noch nicht in der E-Commerce-Gesellschaft“, sagt Thomas Koll, Vizepräsident von Microsoft, „nicht in den USA und erst recht nicht in Deutschland.“ Denn vom Umsatz her ist der online abgewickelte Handel – mit Büchern, Reisen, Computern oder Software – eine zu vernachlässigende Größe.
Die gesamten Ausgaben für Reklame im Internet lagen weltweit 1997 noch unter dem Werbeetat der Imbißkette McDonald's. Nach Schätzungen der US-Marktforscher von Jupiter Communications werden in Deutschland bald etwa drei Milliarden Mark mit Hilfe des Internets umgesetzt werden – nicht einmal ein Promille des hiesigen Bruttoinlandsprodukts. In den USA, die sich E-Commerce als erste auf die Fahnen geschrieben haben, erwarten die Unternehmensberater von Boston Consulting 21,6 Milliarden Mark Umsatz allein aus dem Geschäft der Online-Shops – nur etwa 1,6 Promille des US-Bruttoinlandsprodukts.
Die Propheten des E-Commerce ficht das nicht an. Sie sind sich sicher, daß der Handel über Datennetze mit märchenhaften Wachstumsraten in den kommenden fünf Jahren explodiert. Die Wirtschaftsberater von KPMG sind optimistischer: 3,5 Billionen Dollar sollen dann vermittels des Internets den Besitzer wechseln.
Beratergeschwätz? Außer in den USA, wo siebzig Millionen Menschen online sind, ist das Internet nirgends ein Massenmedium. Bei uns können nur zehn Prozent der Bevölkerung einen Flug online buchen. Die exzellente Börsennotierung von Yahoo!, des legendären Websuchdienstes, steht in keinem Verhältnis zu seinem Umsatz. Buchhandlungen wie Amazon.com bieten zwar guten Service, schreiben aber rote Zahlen. Internet-Commerce – Hype?
„Sie sollten E-Commerce nicht begreifen als: Wie kaufe ich ein Buch im Internet?“, wendet Koll von Microsoft ein. Die meisten entstehenden Online-Shops sind nichts als elektronische Einzelhandelsläden, sogenannte E-Retails, die Warenkataloge als Website anbieten. Die Bestellung bei ihnen geht nicht per Telefon oder Fax, sondern als E-Mail ein. Spektakulär ist das nicht. Das revolutionäre Potential lauert woanders: im Wandel traditioneller Produkte sowie im elektronischen Handel der Unternehmen untereinander, im „Business- to-Business“.
Wer etwa Bücher im Internet verkaufen will, muß mehr anbieten als die übliche Papiersammlung zwischen zwei Pappdeckeln. Beispiel Amazon.com: Zu jedem Bestseller, den man in den virtuellen Einkaufskorb legt, meldet der Websiterobot, welche Schmöker andere Käufer dieses Buchs sonst noch bestellt haben. Dem Leser erschließt sich so eine Gruppe neuer Autoren, die er nicht miteinander in Verbindung gebracht hätte. „Der Kunde muß einen Mehrwert haben“, sagt Jeff Bezos, Präsident von Amazon.com.
Möglich wird dieser Mehrwert durch Online-Datenbanken, die speichern, wer was in welcher Kombination kauft. Ein weiterer e-commerce-typischer Service ist Amazons Einrichtung unter dem Namen „Eyes“. Eine Suchmaschine paßt auf, ob irgendwo im Internet ein neuer Titel der jeweiligen Lieblingsautorin angekündigt wird. Ist das der Fall, schickt der Robot der Interessentin eine entsprechende E-Mail.
Womit die wesentliche Neuerung des E-Commerce benannt wäre: Reine Produkte werden um eine Informationskomponente aus puren Bits im Internet erweitert, ohne die sie sich zunehmend schlechter verkaufen. Güter wie Software oder Nachrichten können am Ende ausschließlich über Datenleitungen geliefert werden, ohne daß sie noch eines Verkaufsträgers aus Magnetfolie oder Papier bedürften.
Zur Zeit halten sich solche Online-Geschäfte zwischen Unternehmen und Verbrauchern (“Business-to-Consumer“) mit dem „Business-to-Business“-Handel noch die Waage. Nicht mehr lange. In zwei Jahren werde „Business-to-Business“ neunzig Prozent der Umsätze einsacken, schätzt der Deutsche Multimedia-Verband.
Von den damit verbundenen Veränderungen hinter den Kulissen merkt der Online-Shopper nichts. Im Dienstleistungssektor bilden sich „virtuelle“ Unternehmen. Mehrere Firmen vernetzen sich mit ausgeklügelter Software für die Dauer eines Projekts. Dann zerstreuen sie sich wieder in den Weiten des Marktes, um neue Allianzen zu schließen. Aber auch das Produktionsgewerbe verändert sich. Zulieferketten von Auto- oder Computerherstellern verwandeln sich über Extranets – eine Art geschütztes Miniinternet, um Produktionsdaten und Dokumente auszutauschen – in Zuliefernetzwerke.
Die Lagerhaltung, durch die „Just-in- time“-Philosophie der letzten Jahre ohnehin drastisch geschrumpft, macht einer ausgeklügelten Kommunikation in Echtzeit Platz – nötigenfalls auch verteilt über den ganzen Globus. Wie viele CD-ROM- Laufwerke, Drei-Gigabyte-Festplatten und RAM-Chips werden gerade von Kunden in Skandinavien online bestellt und müssen morgen wo zusammengebaut werden? Wenn der Verbraucher nach der Lieferung seines PCs schließlich den Kaufpreis überweist, ist das nur die letzte Transaktion in einer ausgeklügelten elektronischen Handelskette. Dieser Strukturwandel senkt die Kosten und verkürzt die Produktionszeiten drastisch – womit der Wettbewerb noch härter wird.
„Dell Computer“, einer der Pioniere dieses Verfahrens, setzt zehn Millionen Dollar am Tag via Internet um. Chipgigant Intel ist inzwischen umgeschwenkt und erwirtschaftete zuletzt gar eine Milliarde Dollar im Monat. Auch „Cisco“, größter Produzent von Netzwerkleitungen, –routern und –servern, wickelt seine Geschäfte zu zwei Dritteln via Internet ab.
Diese Großkonzerne sind bislang aber nicht mehr als die berühmte Avantgarde, die eine Revolution vorantreibt. „Viele Unternehmen fühlen sich noch gar nicht betroffen“, sagt Jörg Wenzel, Chef der Arbeitsgruppe für E-Commerce der EU- Kommission. Die kleinen und mittleren Unternehmen beginnen erst zu begreifen, daß sie über das Internet einen Markt betreten können, der weit über den Horizont ihrer heimischen Regionen hinausweist. Erst zwanzig Prozent von ihnen verfügen über einen Internetanschluß, nur fünf Prozent haben eine Homepage.
Viele, ob Verbraucher oder Firmen, sind mißtrauisch. Die Skepsis ist berechtigt. Hindernisse – wie zu langsame Internetanschlüsse der Verbraucher oder der Diebstahl von Kreditkartennummern – sind dabei technisch lösbar. Die drängenden, ungelösten Fragen zum elektronischen Wirtschaften betreffen vielmehr die politischen und juristischen Sphären. Aber nach welchem Standard soll Zahlungssicherheit gewährleistet, sollen Verträge hieb- und stichfest gemacht werden?
Wie kann sich der Konsument davor schützen, von Firmen ausspioniert zu werden, während er durch Online-Kataloge surft? Wie wird die Einhaltung von Copyrights sichergestellt? Wer reguliert die elektronische Wirtschaft – die Marktkräfte oder die Staatengemeinschaft?
Die USA haben die Kräfte des Marktes bislang sich selbst überlassen. „Der Privatsektor sollte die Entwicklung anführen, der Staat sowenig wie möglich eingreifen“, formuliert Ira Magaziner, Berater des US- Präsidenten Bill Clinton, die E-Commerce-Philosophie der US-Regierung. Das Magazin Wired brachte das auf die Formel „Doing nothing, but doing it well“ – nichts tun, aber das gut machen.
Der EU hingegen ist das zu lasch. „Verbraucherschutz, Besteuerung und Datenschutz brauchen staatliche Richtlinien“, sagt Jörg Wenzel von der EU-Kommission. Denn die oft beschworenen Marktkräfte werden dann doch schwach, wenn Milliarden Kundendaten aus dem Netz zu holen sind. Beispiel: Microsofts „WebTV“. Die Software, die den Internetzugang per TV-Gerät ermöglicht, speichert alle Klicks des Surfers. Bislang fehlen für dieses Verfahren Schutznormen – ebenso wie die Möglichkeit, im grenzüberschreitenden Online-Handel Schadensersatzklagen durchzusetzen.
Die EU will nun Standards und Umgangsformen des elektronischen Wirtschaftens in einer internationalen E-Commerce-Charta festschreiben. Peinlich nur, daß sich die EU-Länder nicht einmal untereinander einig sind. Erst Ende November scheiterte der Versuch der für Telekommunikation zuständigen Minister, einen einheitlichen Sicherheitsstandard für elektronische Unterschriften festzulegen.
Für E-Commerce-Enthusiasten sind das lästige Verzögerungen. „E-Commerce hat den Durchbruch im letzten halben Jahr geschafft“, meint KPMG-Experte Holger Röder. Selbst wenn das stimmt – im von Arbeitslosigkeit geplagten Westeuropa dürfte die Öffentlichkeit vor allem eines interessieren: Wie viele Jobs werden dabei rausspringen? Pessimisten sehen viele weitere Arbeitsplätze gefährdet.
Sicher ist: In vielen Branchen wird E-Commerce den Zwischenhandel eliminieren. Andererseits werden Scharen von Softwarebetreuern, Netzwerkverwaltern und Programmierern benötigt, um die neue internetbasierte Infrastruktur aufzubauen und in Schuß zu halten. Selbst in den USA bleibt derzeit ein Viertel aller neuen Arbeitsplätze in der Informationstechnik unbesetzt.
Daß E-Commerce aber nicht einfach ein neuer Euphemismus für den Effizienzwahn der vergangenen fünfzehn Jahre ist, zeigt der Fall Cisco. Die Firma verlegte ihren Kundendienst ins Netz und automatisierte ihn – weil nicht genügend Arbeitskräfte für den Telefonverkauf zu finden waren, als der Konzern expandierte.
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