■ Querspalte: Antisemitismus: Pro und contra
Politiker haben manchmal Geistesblitze. Der Sprengstoffanschlag auf das Grab des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, sei „Ausfluß einer verrückten Gesinnung und das Werk von wirren Einzelgängern“, schrieb Bundespräsident Roman Herzog in einem Telegramm an die Witwe Galinskis. Und der Innenminister der rot-grünen Regierungskoalition, Otto Schily, assistierte, die Tat zeige, „daß der Antisemitismus noch entschiedener thematisiert und debattiert werden muß“.
So machen wir das, ganz entschieden. Schon morgen soll es Podiumsdiskussionen in allen Schulen der Republik geben. Thema: Pro und contra Antisemitismus. Auf der einen Seite wirre Einzelgänger mit einer verrückten Gesinnung, auf der anderen Seite wir, vertreten durch Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die in Bonn erklärte, der Anschlag sei „ein Anschlag auf einen von uns“. Nun ist auch eine abgewählte Rita Süssmuth ja eigentlich noch nicht mit einer Grabplatte zu verwechseln. Aber es ist klar, was sie meint: Nicht „von einem von uns“ wurde die Bombe geschmissen, sondern „auf einen von uns.“ So ist das nämlich mit der deutschen Identität.
Und da debattiert die intellektuelle Elite wochenlang über Martin Walser. Hmpf.
Dabei ist das deutsche Volk gar nicht so. Fassungslos starrte ein Leser des Berliner Springerblattes B.Z. gestern früh auf die Titelseite seiner Zeitung: „Galinskis Grab mit Bombe geschändet“ stand da in großen Lettern, mit einem Bild von der weinenden Galinski-Witwe. „Ist doch nicht zu fassen, ditte!“ stammelte der Mann vor sich hin. Der Autor dieser Zeilen war beeindruckt von so viel Mit- und Fingerspitzengefühl. „Hertha verliert jejen Werder, dit kann do' ja nich sein!“ schüttelte der Mann weiter den Kopf und stieg aus. „Preetz machte sein Tor. Aber hinten Chaos“ stand ganz oben auf der Seite, unter den Bingo-Zahlen.
Herr Schily, Ihr Fall. Bernd Pickert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen