Warten auf das Christkind

Die Voraussetzungen waren wirklich nicht gut: Es war das erste Weihnachten nach dem Tod unserer Mutter. Schwierig war schon die Geschenkefrage. Unsere Oma war schlecht zu Fuß, und unser Vater hatte neben der Arbeit kaum Gelegenheit, sich nach Gaben für uns Kinder umzusehen. Aber wozu gibt es Versandhäuser? Ein paar Wochen wurden also Kataloge gewälzt, bis endlich die Bestellkarte ausgefüllt wurde. Dann begann das Warten.

Immerhin waren wir nicht mehr so klein, daß wir es nicht mitbekommen hätten, wenn die Post ein Paket lieferte. Die Bausätze für meinen Bruder, da waren wir uns ganz sicher, waren schon da. Aber wo blieb das Paket mit meinem Schülerfotolabor? Nach dem zweiten Advent wurde ich ein wenig unruhig: Was, wenn mein Geschenk nicht rechtzeitig käme?

Und dann war Heiligabend. Der Weihnachtsbaum wurde gemeinsam geschmückt, es war fast wie früher. Ich versuchte, den Gedanken an die mir bevorstehende Katastrophe zu vermeiden: Unter dem Baum zu sitzen und nichts auszupacken zu haben. Und: Mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

„So, ihr geht jetzt mit Oma nach oben“, sagte mein Vater. „Wenn ich rufe, ist Bescherung.“ Das war die letzte Gelegenheit zum Vorbeugen. „Kann ich nicht hier bleiben?“ fragte ich. „Mein Paket ist doch nicht gekommen.“ Da geschah das Wunder. Denn ich hörte meinen Vater sagen: „Ach was, vielleicht ist ja doch etwas für dich abgegeben worden.“ War die Post doch gekommen? Oder hatte mein Vater tatsächlich noch ein Reservegeschenk für mich ausgesucht – eine wirkliche, eine echte Überraschung? Jetzt würde vielleicht doch noch alles gut.

Bei Oma schauten wir uns eine dieser Weihnachtssendungen für Kinder an, „Warten auf das Christkind“. Jetzt war es doch wieder ein strahlendes, spannendes Weihnachtsfest. Und dann wurde der Reihe nach ein Paket nach dem anderen ausgepackt. Eins für diesen, eins für jenen, eins für Oma.

Und es war wie mit den Tagen vor Weihnachten: Sie rauschten an mir vorbei, und es passierte – nichts. Bloß nicht zu viele Hoffnungen machen! Und dann war alles vorbei, und für mich war wirklich nichts „abgegeben worden“. Das hatte mein Vater wohl nur so gesagt. Als mein Paket schließlich Mitte Januar ankam, entpuppte sich mein Fotolabor als billiger Nepp. Das haben wir dann reklamiert und zurückgeschickt. Reinhard Krause