piwik no script img

Nicht wissen, was passiert

■ Was ist bloß eine Docu-Soap? Alle Sender machen neuerdings so etwas, Arte erst ab heute ("Der wahre Kir Royal", Teil 1, 20.15 Uhr)

Auf dem Bildschirm sehen wir Kai, den Macho. Er steht mit sorgenvoller Miene am Briefkasten. Die Polizei hat ihn mit 1,9 Promille am Steuer erwischt, und jetzt hat Kai die Quittung in Form eines Schreibens vom Amtsgericht München erhalten. In der Küche redet er mit seiner Freundin Sabine über die Konsequenzen seiner Alkfahrt: „Ich glaube, ich bin mehr enttäuscht von mir, als du denkst.“

Angewidert möchten die Zuschauer schon das Gesicht verziehen: Ein weiterer smarter Typ, dem ein weiterer mieser Drehbuchautor in einer weiteren Vorabendserie einen weiteren schlechten Satz in den Mund gelegt hat. Stimmt aber gar nicht: Was wir hier zu sehen bekommen, ist das wahre Leben, genauer „Der wahre Kir Royal“, und es handelt sich hierbei nicht um eine Soap, sondern um eine „Docu-Soap“, eine Mischung aus Dokumentation und Seifenoper. Mit manchmal vier Kameras gleichzeitig hat Regisseur, Produzent und Autor Christian Bauer Leben und Arbeit seiner Protagonisten in fünf Folgen für den Kulturkanal Arte eingefangen. Kai, Rob, Birgit, Sabine, Tanja, Toni und Michi arbeiten allesamt für den Münchner Schicki-Gastronomen Michael Käfer, organisieren Messeempfänge, bedienen den Ministerpräsidenten und bereiten die Hochzeit ihres Chefs vor. Daneben haben sie auch ein Privatleben: Rob, der Holländer, heiratet Christine und bekommt ein Kind, Toni, der Venezianer, demonstriert die „italienische Dusche“, und Michi, der Münchner, wird beim Oktoberfest unter den Tisch gesoffen – alles reale Personen, die bereit waren, monatelang von der Kamera verfolgt zu werden.

„Der wahre Kir Royal“, in gewisser Weise auch eine Käfer- Werbeveranstaltung, die den Gebührenzahler 200.000 Mark pro Folge kostet, ist die erste Staffel von insgesamt einem Dutzend „spannender Alltagsgeschichten“, die Arte ab heute Abend zeigt. Im Januar folgt „Mit Rucksack und Kamel“, eine französische Produktion, die zehn Menschen auf einer Abenteuerreise durch den marokkanischen Atlas begleitet, im März zeigt Thomas Kufus seine Eindrücke von der Geburtsstation eines Berliner Krankenhauses, im April ist eine französische Reihe über sich selbst helfende Arbeitslose zu sehen.

Weiter auf dem Programm: ein Hochzeitspaar kurz vor dem großen Tag und die Schüler einer Stierkampfschule. Was unterscheidet eine Docu-Soap von einer normalen Dokumentation? Christian Bauer: „Die Kamera läuft und läuft und läuft. Wir wissen ja noch nicht, was passieren wird. Alles ist interessant und unter Umständen von Bedeutung.“

Die Recherche findet beim Drehen statt, und dann erst folgt die eigentliche Arbeit: Sieben Monate lang hat Bauer am „Wahren Kir Royal“ geschnitten („Aussieben, aussieben, aussieben!“), hat verschiedene Handlungsstränge miteinander verknüpft, Spannungsbögen und Cliff-Hanger geschaffen. Derweil sind ihm seine Protagonisten „zu Freunden“ geworden – da zeigen sich dann auch schon die Grenzen des Genres: „Wenn die Protagonisten anfangen, sich an die Kamera zu gewöhnen, wenn sie merken, was gut ankommt, dann sollte man mit der Docu-Soap aufhören.“

Unter diesem Aspekt hätte er mit dem „Wahren Kir Royal“ vielleicht gar nicht erst anfangen sollen: Die Käfer-Belegschaft, von ihrem Job und sich selbst über die Maßen begeistert, wirkt von Beginn an wie einer künstlichen Soap-Opera entsprungen. Das ist wohl der TV-Erziehung zu verdanken: Jahrelang pfeifen wir uns täglich Serien rein, die uns den zwischenmenschlichen Umgang vorexerzieren – im wirklichen Leben (und wenn auch noch eine Kamera dabei ist) werden die tausenfach gehörten Sätze wohl genauso funktionieren.

Bauer will seine Zuschauer unterhalten, will Publikum locken, das sich sonst vielleicht keine Dokumentationen anschauen würde: „Die Docu-Soap – davon bin ich überzeugt – kann dem Dokumentarfilm wieder einen Prime-time- Platz im Fernsehen zurückerobern.“ Vorbild ist Großbritannien: Wenn die BBC ihre Docu- Soap „Cruiser“ über das Kreuzfahrtschiff „Galaxy“ ausstrahlt, erreicht der Sender sensationelle Einschaltquoten.

Diese Aussicht lockt nicht nur die Verantwortlichen bei Arte: Docu-Soaps scheinen der Fernsehtrend des kommenden Jahres zu werden. RTL 2 startet am 13. Januar „Reeperbahn!“, eine Serie um echte Hamburger Fischhändler, Tänzerinnen und einen Klomann. Auch Sat.1 plant eine Docu- Soap, deren Ausstrahlungstermin allerdings noch in den Sternen steht: „Die Fahrschule“, eine Adaption des britischen Konzepts „Driving School“, beobachtet Menschen bei der Erlangung eines Führerscheins der Klasse 3. Während die Sender sich Pionierleistungen auf die Fahnen schreiben (RTL 2: „Vorreiterrolle“), vergessen sie, daß das Format auch hierzulande so neu nicht mehr ist: Für ihre hervorragende WDR-Serie „Die Fussbroichs“ um eine Kölner Arbeiterfamilie erhielt Ute Diehl bereits 1992 einen Adolf-Grimme- Preis. Stefan Kuzmany

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen