: „Der lange Schultag lenkt von der Gewalt ab“
■ „Schwierigen“ Kindern und Jugendlichen bietet die Ganztagsschule neben dem üblichen Unterricht eine Fülle von Angeboten. Nicht selten allerdings fühlen sich die Kids von den Pädagogen überbetreut
Wie „ein Erwachsener am Arbeitsplatz“ fühlt sich Dennis manchmal, wenn er morgens um 8 Uhr aus dem Haus geht und dann erst wieder um 16.10 Uhr die 1. Oberschule in Berlin-Wilmersdorf verläßt. Zehn Schulstunden liegen dann hinter ihm. „Mittlerweile habe ich mich schon dran gewöhnt“, sagt der 15jährige und guckt ein bißchen stolz. Er hat etwas zu tun – und das macht ihn augenscheinlich zufrieden.
Der Neuntkläßler gilt unter den PädagogInnen der Schule als „schwierig“. Er gehe auf die „1.OG“, sagt Dennis schlicht, weil ihn sonst keine andere Schule genommen habe. Schwänzen stand auf seiner Tagesordnung, Rumhängen, kein Bock auf Schule. Heute sieht seine Agenda anders aus, wenigstens bis zehn nach vier. Er ist beschäftigt, sinnvoll beschäftigt. Denn die Schule, die in einem gutbürgerlichen Viertel Berlins liegt, bietet neben dem üblichen Unterricht zahlreiche Angebote: Es gibt zum Beispiel eine gutbestückte Bibliothek, eine Videowerkstatt, ein Café, Badminton und Basketball, Kicker und Billard. Die meisten Angebote entstanden unter Mitarbeit der SchülerInnen.
Vieles wird sozialpädagogisch betreut, aber die Kids, auch Dennis, nehmen die Angebote gerne wahr. In der Bibliothek leihen sie zwar am liebsten Videokassetten und Jugendzeitschriften aus, aber die Schulleiterin Ruth Garstka hofft, daß die Kinder so „trotzdem an Literatur herangeführt werden“. Die Videowerkstatt ist der absolute Hit, ständig überfüllt. Eine Art versteckte Therapie. Hier spielen Mädchen Game-Shows nach und transportierten so ihre Gefühle und Frustrationen nach außen, erzählt der zuständige Erzieher.
Dennis fühlt sich in der Ganztagsschule „gut“. Das betont er immer wieder unaufgefordert. Es sei besser dort, als „zu Hause rumzulungern“. Und dann sagt er noch etwas, was alle PädagogInnen entzücken müßte: „Der lange Schultag lenkt von Gewalt ab.“
Doch genauso wie seine Mitschülerin Nadja findet er die pädagogische Betreuung – 40 LehrerInnen kümmern sich um die rund 400 Kinder – „eher nervig“. Die beiden sehen die Ganztagsschule pragmatisch. Nadja, weil sie hofft, hier bessere Chancen zu haben und dann doch noch mal irgendwann aufs Gymnasium zu kommen (auf der 1.OG kann man nur Haupt- und Realschulabschluß machen), und Dennis, weil ihn sonst keine Schule wollte. „Viele Lehrer denken, sie haben Ahnung von uns“, sagt Dennis ein bißchen abfällig. „Aber das stimmt nicht.“ Die 15jährige Nadja beklagt, daß die LehrerInnen „sehr neugierig“ sind. Sie wollten sich in die Leben der SchülerInnen einmischen und würden sie oft „zulabern“.
Auch wenn die Familien beider Jugendlichen nicht intakt sind – Dennis' Vater ist kürzlich gestorben, und er hatte große Konflikte mit der Mutter, Nadja lebt in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft –, ist die Schule für beide kein „Familienersatz“. Es sei ein wichtiger Teil des Tages, aber das „eigentliche Leben“, so bezeichnet es Nadja, spiele sich nach 16.10 Uhr und am Wochenende ab.
Schulleiterin Garstka ist dennoch überzeugt, daß „soziales Lernen“ auf Ganztagsschulen intensiver sei. „Die Einflußmöglichkeiten auf die Kinder sind einfach größer.“ Für sie ist das Zukunftsmodell Schule nach wie vor die Ganztagsschule. Ihre Strategie heißt: „Selbstbewußtsein fördern und die Kommunikation stärken.“ Bei Dennis scheint's gelungen. Julia Naumann, Berlin
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