: Grübeln in Sprechblasen
Der Werbezeichner Stéphane Heuet wagte es und präsentiert Marcel Prousts „Recherche“ als Comic. Der Band ermutigt vor allem dazu, das Original zu lesen ■ Von Yves Rosset
Obwohl Frankreich in Sachen Comic eine lange Tradition besitzt, war die Aufregung groß, als bei einem Pariser Verlag die Comicversion der „Recherche“ von Marcel Proust angekündigt wurde. Als begeisterter Proust-Leser hatte der 41jährige Werbezeichner Stéphane Heuet es tatsächlich gewagt, das literarische Nationalheiligtum auf das minderere Niveau eines gezeichneten Bilderbuchs herabzusetzen. Doch die wütenden Reaktionen im Feuilleton auf diesen Tabubruch wirkten vor allem verkaufsfördernd: Die erste Auflage mit 12.000 Exemplaren des inzwischen erschienenen ersten Bandes (elf weitere sind geplant) wurden innerhalb von drei Wochen verkauft, 8.000 weitere Exemplare des sündigen Objekts wurden beim Drucker nachbestellt.
Mit diesen Verkaufszahlen liegt das Comic schon längst über denen des Originals, das gerade 15.000mal jährlich über den Ladentisch geht. Seinen Erfolg kann der Autor als einen Akt der Demokratisierung von großer Literatur verbuchen: Nach dem Motto „Raus aus dem Snobismusghetto!“ erhofft sich Heuet mit „entwaffnender Naivität“, wie Libération schrieb, „eine bessere Welt“.
Für seine Fassung der „Combray“-Episode recherchierte Heuet zwei Jahre lang an den Orten des Geschehens. Er ging dort spazieren, wo auch der Erzähler seine ersten Inspirationen durch die Natur erfuhr. Außerdem besuchte Heuet Museen, schlug in unzähligen Büchern die Geschichte der Belle Époque nach und sah sich die Fotografien von Nadar an. Das Ergebnis dieser Aufarbeitung ist eine wirklichkeitstreue Wiedergabe der damaligen Welt, doch die streng klassischen Zeichnungen wirken in ihren klaren Linien, dem Realismus der Figuren und ihrer minimalen Gestik eher fade.
Nun wäre die schulbuchmäßige Treue zum Gegenstand noch zu ertragen, wenn in der graphischen Adaption nicht auch die Erzählung gravierende Mängel erleiden würde. Natürlich sind die Schwierigkeiten enorm: Wie lassen sich Proustsche Sätze in Sprechblasen transportieren? Wie läßt sich eine so actionarme Erzählung in ein spannendes Comic-Skript übersetzen? Und wie zeichnet man überhaupt eine Figur beim Nachdenken? Jacques Tardi, dessen Leo- Malet-Adaptionen und die Illustrationen zu Célines „Voyage au bout de la nuit“ als hohe Comickunst gelten, hat das Dilemma auf den Punkt gebracht: „Man kann nicht eine riesige Blase haben, die eine winzige Figur erdrückt.“
Der Zeichner Heuet benutzt die spielerischen und gestalterischen Möglichkeiten selten, die es sonst dem Comic erlauben, ein eigenständiges Verhältnis zwischen Text und Bild zu erzeugen. Originale Satzfetzen oder die klassischen Zitate aus dem akademischen Kodex begleiten als Off- stimme in beigefarbenen Kästen die Illustrationen eines langweilig aussehenden Bürgerlebens in der Provinz. Nur bei der Szene mit der eingetauchten Madeleine verbreiten sich ornamentartige Teedampfspuren über die einzelnen Bilder hinaus, um dem Leser ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie der Erzähler in die Vergangenheit eindringt. In der Luft schweben dazu die Wörter, mit denen Heuet das Mysterium der „memoire involontaire“ darstellt. Die Passage gibt einem den Eindruck, Proust würde dabei ein Stück Haschkeks mit Genuß verzehren.
Zugleich wird in den akribischen Zeichnungen deutlich, wie sehr dem Comic die Fähigkeit der Proustschen Sprache fehlt, durch immaterielle Dinge Bilder in der Einbildungskraft des Lesers zu erzeugen. Der Versuch von Heuet gleicht dagegen eher einer illustrierten Zusammenfassung der „Recherche“. Das Original wird weiter ein bürgerliches Freizeitvergnügen bleiben – auch wenn sich die Zeitschrift Elle das Proust-Comic als „Madeleine“ für künftige Generationen vorstellen kann.
Stépahne Heuet: „A la recherche du temps perdu – Combray“, Delcourt 1998, 72 S., ca. 40 DM
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