: Klaus Kinski an der Kette Von Carola Rönneburg
Wir waren zu viert und immer noch durstig, als wir vor kurzem zu später Stunde durch eine mittelgroße hessische Stadt wanderten. Den Empfehlungen Einheimischer folgend, steuerten wir eine Kneipe nach der anderen an, doch wo immer wir auch verzweifelt an der Tür rüttelten, hatte man bereits die Stühle hochgestellt und das Licht gelöscht. Als es auch noch zu regnen begann, wollten die andere Dame und ich aufgeben. Da aber meldeten die Herren, die vorausgeeilt waren, sie hätten eine geöffnete Gaststätte entdeckt.
Wer Mike Leighs Film „Life is sweet“ gesehen hat, erinnert sich vielleicht an das überaus dubiose französische Restaurant, mit dem eine englische Fish'n'Chips-Gemeinde kulinarisch missioniert werden soll: das „Regrette rien“. Wir gerieten ins Musikcafé „Lebensfreude pur“.
Das erste, was uns beim Betreten des Lokals auffiel, war eine Nebelwand: Das „Lebensfreude pur“ war seit seiner Eröffnung nicht mehr gelüftet worden. Vorsichtig tasteten wir uns durch den Rauch hindurch und über einen Hund hinweg an einen freien Tisch. Nachdem wir kurz in die Getränkekarte geblickt hatten, löste sich eine weibliche Person aus einer Gruppe von Tresengästen und steuerte auf uns zu. „Hallo“, sagte sie mit einer Stimme, als wäre sie eben erst aufgewacht, und gab jedem von uns die Hand. „Ich heiße Luzie, aber mein Spitzname ist Lebensfreude pur. Deshalb habe ich den Laden hier auch so genannt, Lebensfreude pur.“
Keiner von uns kann in diesem Moment besonders intelligent ausgesehen haben. Wir starrten die Frau an, die zwar, abgesehen von einer großen Herpesblase an der Oberlippe, recht attraktiv war, aber so gar nicht lebensfreudig wirkte, eher erschöpft. Glücklicherweise legte sich unsere Verwirrung bald, so daß wir Bier und Wein bestellen konnten. Lebensfreude pur erklärte uns noch ihren Herpes („zuviel rumgeknutscht“), lächelte und zog sich zurück.
Im Verlauf der nächsten Stunde drehte sich die Unterhaltung zunächst nicht um den bizarren Auftritt unserer Wirtin. Nach und nach aber entdeckten wir immer seltsamere Objekte in unserer Nähe, etwa an den Wänden, die ausnahmslos mit sogenannten erotischen Fotografien bzw. schwülstigen Malereien gepflastert waren. Auch befand sich hinter unserem Tisch eine kleine Bibliothek: Zwei Taschenbücher waren hier mit langen Ketten an einem Regal festgemacht. Zur Auswahl standen die Klaus-Kinski-Biographie „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ und Andrea Dworkins Schundroman „Eis und Feuer“. Außerdem fielen mir bei einem Toilettenbesuch diverse auf den Kacheln notierte Gedichte und Aufforderungen zum Thema freie Liebe auf – allesamt mit derselben Handschrift erstellt.
Wir tranken ungerührt weiter. Auf einmal aber verspürte ich ein übermachtiges Verlangen: Hinter den Glastüren eines Wandschrankes sprang mir nämlich ein Sonderangebot ins Auge – bedruckte Teller, Tassen und Becher, die zum Verkauf standen. Zum Preis von 15 Mark erwarb ich einen Kaffeebecher mit der Aufschrift „Lebensfreude pur“. Ich hüte ihn daheim zum Beweis, daß ich diese Geschichte nicht erfunden habe. Aber obwohl der Becher sorgfältig von mir gespült wurde, habe ich noch nie aus ihm getrunken.
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