: Selbstgetippte Todeslisten
■ Schwierigkeiten mit der Zivilcourage: Ivan Ivanjis Erzählung „Das Kinderfräulein“
Europa vor dem Zweiten Weltkrieg: Eine mittellose deutsche Adlige, die im Österreich der 30er Jahre keine Arbeit als Lehrerin finden konnte, tritt den Posten eines Kinderfräuleins bei einer wohlhabenden jüdischen Familie an. Nicht irgendwo in Deutschland, sondern in einer kleinen jugoslawischen Stadt, wo Serben, Ungarn, Deutsche und Juden noch selbstverständlich miteinander leben.
Ivan Ivanji überzeugt als Erzähler, wenn er sich auf die Psychologie seiner Figuren konzentriert und die Geschichte nicht mit politischen oder historischen Fragestellungen überfrachtet. Am besten gelingt ihm die Zeichnung der Hauptfigur: Wir lernen Ilse von Blockberg als schüchternes Mädchen kennen, das sich schnell ins Leben der neuen Familie einfügt, sich mit der mondänen, aber unglücklichen Herrin anfreundet und sich ernst und gewissenhaft der Erziehung ihres Schützlings Viktor widmet. Es ist die Geschichte einer vom Leben benachteiligten Frau, die aber durchaus über sich selbst hinauswachsen kann: Als ihrer Familie nach dem Überfall der Deutschen im April 1941 und der Besetzung der Stadt Gefahr droht, interveniert sie ohne viel nachzudenken beim Gestapo-Chef – sie, die sich eigentlich nie für Politik interessierte und bisher eher staunend die Aktivitäten ihres deutschnationalen Freundes im örtlichen deutschen Kulturverein verfolgt hatte.
Für den Vater Viktors, einen Zuckerfabrikanten, kann sie nichts mehr erreichen. Er wird umgebracht. Aber sie kann die Erlaubnis für die Ausreise von Viktor und seiner Mutter erwirken – muß sich aber dafür verpflichten, für den Gestapo-Chef als Sekretärin zu arbeiten. Mit der neuen Tätigkeit findet sich Ilse von Blockberg bald ab. Sie weiß zwar, daß die Namenslisten, die sie fein säuberlich abtippt und im nahegelegenen Gefängnis abgibt, Todesurteile sind. Aber als verarmte Adlige ohne Verwandte hat sie sich ja bisher auch immer in jede neue Situation eingefunden. Dennoch überwindet sie noch einmal die eigene Lethargie: Als der ehemalige Chauffeur der Fabrikantenfamilie in eine Falle gelockt werden soll, warnt sie ihn.
Ivan Ivanji, geboren 1929 im Banat, Jugoslawien, kam als 16jähriger 1944/45 in die KZs Auschwitz und Buchenwald, weil er Jude war. Nach der Befreiung studierte er in Belgrad Architektur und Germanistik, war Techniker am Bau, betätigte sich als Journalist, im Verlagswesen und als Dramaturg, war Theaterintendant, Diplomat und über 20 Jahre lang Dolmetscher Titos. Daneben fand er Zeit zu schreiben: neun Romane, zahlreiche Essays, Dramen und Gedichte. Vielleicht liegt es an der Fülle dieser Erfahrungen, daß Ivanjis Roman etwas überfrachtet wirkt, eine Vielzahl von Themen anreißt und sich zuweilen darin verliert.
In der zweiten Romanhälfte begegnet Ilse von Blockberg nach 50 Jahren ihrem ehemaligen Schützling Viktor im heutigen Wien. Jetzt ist die tragende Figur im Roman nicht mehr das Kinderfräulein, sondern Viktor, der ein berühmter Architekt geworden ist und nun über die Wandlung seines Berufs durch die Computertechnik und die architektonischen Veränderungen der Stadt Wien sinniert, und der vergeblich versucht, ein Mahnmal zu entwerfen, das er bauen soll: „Daß man das mit uns gemacht hat, das ist schrecklicher als jeder Tod, aber das kann ich nicht in Beton oder Marmor oder Glas oder was weiß ich ausdrücken. Also muß ich es bleiben lassen...“, sagt Viktor. In dieser Frage ist der Autor mit seinem Protagonisten einer Meinung: Ein Holocaust-Mahnmal gehe ihn nichts an, meint Ivan Ivanji, wenn er danach gefragt wird. Chirine Ruschig
Ivan Ivanji: „Das Kinderfräulien“. Picus Verlag, Wien 1998, 286 Seiten, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen