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Das Leben als Todesfall...

■ ...und der Erzähler als Knochensammler: Josef Winklers fortgesetzte Sterbekunde

Auch Knochen sind zu etwas nütze. In einem Kärntner Dorf wurden sie früher dazu verwendet, einen stinkenden Sud zu kochen, mit dem man die Pferde bestrich, um lästige Fliegen und Bremsen von ihnen abzuhalten. Diese Geschichte kolportiert Josef Winkler in seinem neuen Buch und macht sie zugleich zum Prinzip seines Erzählens. Der Autor sammelt die Knochen der meist gewaltsam zu Tode gekommenen Dorfbewohner ein und legt sie in den Tonkrug, in dem bereits der Erzählsud vor sich hinköchelt. Wozu er das tut? Wen er abschrecken will? Oder ist das Ergebnis des makabren Tuns gar nicht nützlich, sondern nur schön, Selbsterfüllung der Form? Der abscheuliche Sud ein Genuß?

Solche Fragen wirft Winklers Erzählung auf, und die Antwort wird mehr als in anderen Fällen vom guten oder schlechten Willen des Lesers abhängen. „Wenn es soweit ist“ versammelt rund um einige wenige, obsessiv wiederholte, durchwegs todesbezogene Motive eine Unzahl von Dorfgeschichten, kleine Erzählbruchstücke aus einem ganzen Jahrhundert, in dem nach und nach der sogenannte Fortschritt Einzug hält (und die Pferde verdrängt), ohne etwas an der seit jeher herrschenden katholischen Dumpfheit und Stumpfheit zu ändern. Unglücksfälle, Todesfälle, Selbstmorde, Gehässigkeiten, Verwünschungen, Leichenzüge, Begräbnisse – aus nichts anderem scheint das Leben im Kärntner Dorf zu bestehen. Zum barocken Imaginarium gehört es, das Leben als Produktion der Leiche zu sehen.

Konnte man die ersten drei Romane Winklers noch als Bekenntnisbücher lesen, in denen die Innenschau viel Platz einnahm, so finden wir den Autor nun unter den um Objektivität und Genauigkeit bemühten Chronisten kleistscher Prägung (selbst die phantastischen, wahnhaften Passagen klingen in solchem Kontext ganz wirklichkeitstreu). Winkler hat es aufs Detail abgesehen, in dem jener Teufel sitzt, der es ihm als Widerpart zur christlichen Erlöserfigur angetan hat. Er versieht die Substantive Satz für Satz mit einer Mehrzahl von Adjektiven oder komplexeren Attributen und füllt die Sprachform bis obenhin mit Realien. Manches erinnert an den frühen Thomas Bernhard: die beklemmende Atmosphäre der alpenländischen Gesellschaft und Natur, die Inspiration an den Chronikseiten der Zeitungen und deren Stil. Doch anders als Bernhard musikalisiert Winkler die Sprache nicht; er verausgabt sich im Bildbeschreiben.

In seinen Erzähltext hat Winkler immer wieder Fragmente von katholischen Gebeten und Liedern eingewoben. Dadurch und durch die refrainartige Wiederholung bestimmter Bilder kommt in seine eigene Schöpfung etwas Litaneihaftes, Obsessives, auch Dumpfes, das der katholischen „Volkskultur“, die er zu denunzieren bestrebt ist, zumindest formal verpflichtet bleibt. Die Gebetseinsprengsel bilden in ihrer Süßlichkeit einen Gegensatz zum Grauen der Dorfwirklichkeit, zeigen aber auch eine Ähnlichkeit zu den Schreibexerzitien, die Winkler durchführt. Mit all diesen Eigenschaften erweist sich seine Literatur als eine eminent österreichische: barocke, hypertrophe Formen; Katholizismus als thematischer, ja gleichsam liturgischer Hintergrund; Fundamentalkritik, die sowohl Sprache als auch Gesellschaft ins Auge faßt. Unter jeweils verschiedenen Aspekten befindet sich Winkler in nächster Nähe zu Handke, Bernhard, Jelinek.

Hier wäre nun ein Postskriptum anzufügen, das das Gesagte nicht schmälern soll. So groß die Bewunderung ist, zu der die formale Komposition des Buchs und die Hartnäckigkeit, mit der sie ausgeführt wird, nötigen, so groß sind auch die Ermüdungserscheinungen, die sich etwa ab der Hälfte einstellen, wenn man merkt, daß sich die Schreibmuster nicht mehr ändern, sondern bis zum Schluß wiederholen werden. Diese Müdigkeit ist derjenigen in der katholischen Frühmesse verwandt, wie sie Peter Handke in seinem Essay beschrieben hat. Die Muster sind ausgereizt, über die x-te Wiederholung liest man nur noch hinweg. Wie aller „barocken“ Kunst wohnt auch der Winklerschen eine Neigung zum Manierismus inne; Manierismus verstanden als Vervielfachung der Formen bei gleichzeitiger Verdünnung der Substanz. Die Schrecken, von denen immer erneut die Rede ist, erschrecken dann nicht mehr. Der Tod verliert seinen Stachel.

Vielleicht trägt zu den Ermüdungserscheinungen auch eine Simplizität in den formalen Grundannahmen bei. Dies betrifft in erster Linie den Knochen- und also Erzählsud selbst: Ist die Sache nicht doch komplizierter, vermischter? Stinkt so ein Sud wirklich nach Verwesung? Aus Knochen bereitet man doch auch köstliche Suppen. Oder eine andere, schon im Roman „Der Ackermann aus Kärnten“ auftauchende und konstitutive Obsession Winklers: die kreuzförmige Anlage des Dorfes und seine vermeintliche Symbolbedeutung. Doch viele Dörfer haben diese Kreuzform, und die Kreuzform ist zweifellos älter als ihre christliche Symbolisierung, ihre Bedeutung unter anderem eine verkehrs- und siedlungstechnische. Und schließlich: Die Todesdichte, die Winkler für das Kärntner Dorf behauptet, läßt dem Leben keinen Raum. Auch wenn man die Sache von ihrem Ende her sieht, ist doch das Leben die Voraussetzung für das, worum Winklers Schreiben – nicht nur in den Kärnten-Büchern – kreist: die Leiche.

Die Erzählung läßt sich auf solche Weise gegen den Strich lesen, und sie fordert dies in gewisser Weise heraus. Das Eigentümliche und Schöne aber ist, daß sie in ihrer mineralischen Härte vom Widerstreben des Lesers unberührt bleibt. Leopold Federmair

Josef Winkler: „Wenn es soweit ist“. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 190 Seiten, 38 DM

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