: Nur der Stärkere hat recht
■ Zwanzig Jahre nachdem vietnamesische Truppen der Schreckensherrschaft der Roten Khmer (1975-1979) ein Ende machten, verspüren nur wenige Kambodschaner das Bedürfnis nach Abrechnung mit den Meistern der „killing fields“. Viele kennen die Roten Khmer nur aus Erzählungen oder als Tabu, an das sie aus Selbstschutz nicht zu rühren wagen.
„Wenn die Regierung die Roten Khmer willkommen heißt, dann muß ich das akzeptieren“, sagt schulterzuckend der Ingenieur Mey in der Stadt Siem Reap. „Natürlich hasse ich sie“, fügt er hinzu, „ich habe schließlich zwei Brüder verloren. Aber was kann ich allein schon machen?“
Meys Antwort ist typisch für die überwiegend passive Reaktion der Kambodschaner auf ein ebenso atemberaubendes wie skandalöses Spektakel zum Jahreswechsel: die Wiedergeburt der Rote-Khmer- Führer als harmlose „einfache Bürger“. Niemand demonstrierte gegen Ex-Staatschef Khieu Samphan und Nuon Chea, den „Bruder Nummer zwei“ des Terrorregimes, das zwischen 1975 und 1979 für den Tod von über einer Million Menschen verantwortlich war. Keine Debatten auf den Straßen, von Unruhe in Phnom Penh keine Spur.
Khieu Samphan, der noch 1991, bei seinem letzten Besuch in der Hauptstadt, beinahe gelyncht worden wäre, mußte sich diesmal in dem von der Regierung bezahlten Luxushotel Le Royal nur zudringlicher Journalisten erwehren.
Viele kambodschanische Zeitungen und Rundfunksender stimmten Premier Hun Sen zu: Um des Friedens und der Zukunft des Landes willen sei es am besten, die Vergangenheit in einem „tiefen Loch zu begraben“ und die beiden alten Männer nicht vor Gericht zu stellen. Nur einige Intellektuelle protestierten öffentlich. Die Behörden sollten sie „verhaften und so lange festhalten, bis die UNO über ein Tribunal entscheidet“, forderte der prominente Bürgerrechtler Lao Mong Hay. Andere erinnerten daran, daß die Roten Khmer von ihren Guerillastützpunkten aus noch bis in die jüngste Zeit Mordanschläge verübt hatten.
Doch zwanzig Jahre nachdem vietnamesische Truppen Pol Pots Rote Khmer aus Phnom Penh vertrieben haben, scheint das Bedürfnis nach Abrechnung mit den Peinigern von damals gering. Die Hälfte der Kambodschaner haben die Roten Khmer nicht mehr erlebt. Sie kennen sie lediglich aus den Erzählungen der Eltern, als Ermahnungen (“Iß deinen Reis auf – in deinem Alter haben wir gehungert“) oder als Tabu, an das sie nicht zu rühren wagen. Denn in vielen Familien leben nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Manche waren beides zugleich: Um zu überleben, denunzierten sie damals Verwandte und Nachbarn als vermeintliche Konterrevolutionäre.
Die offizielle Erinnerung ist mit den Jahren zu einem Ritual verkommen: Die im Januar 1979 von Vietnam eingesetzte Regierung beging seit 1981 jedes Jahr einen „Tag des Hasses gegen das Völkermordregime“. In den Schulen berichteten die Lehrer von der Grausamkeit der Roten Khmer: wie sie die Familien auseinanderrissen, Ärzte und Ingenieure ermordeten und vermeintliche Verräter, darunter sogar Kinder, zu Tode folterten. Lehrer führten ihre SchülerInnen zu den Massengräbern, aus denen die modernden Kleider der Toten hervorschauten. Sie besichtigten das Gefängnismuseum Tuol Sleng, eine ehemalige Mittelschule in Phnom Penh. Sie starrten auf makaber dekorierte Totenschädel, auf die Folterwerkzeuge in den Zellen und auf die Fotos von Tausenden Häftlingen.
Die Kehrseite dieser Konfrontation mit der Vergangenheit: „Meine Familie will es nicht mehr hören“, sagt die Lehrerin Vanna, deren erstes Kind in jener Zeit verhungerte. So bleibt sie mit ihren Alpträumen allein. „Weil die KambodschanerInnen traditionell nicht über ihre Gefühle sprechen, leiden viele Menschen heute einsam“, sagt Kann Kall, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ipser in Phnom Penh. Viele würden physisch krank, haben ständig Kopfschmerzen, werden depressiv.
Allerdings sei dies nicht allein auf das Trauma der Rote-Khmer- Diktatur zurückzuführen, meint Kann Kall. Die Bombardements der USA seit 1969 und die vietnamesische Besatzung nach der Vertreibung Pol Pots (“Bruder Nummer eins“ starb im April 1998 an Herzversagen) haben ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen. Er beschreibt das Schicksal einer Bäuerin, die sich über zwanzig Jahre in ihrer Hütte verkroch. Sie konnte es nicht ertragen, als einzige der Familie einen US-Bombenangriff überlebt zu haben. Als Folge der brutalen Vergangenheit prägen Gewalt und Agressivität nach wie vor den kambodschanischen Alltag. Streits werden nicht selten mit Prügel und sogar mit Handgranaten ausgetragen.
Kambodscha ist eine Gesellschaft, in der nur der Stärkere recht hat. So ist die Sehnsucht der Kambodschaner nach Gerechtigkeit und Sühne nicht nur auf die Greueltaten der Roten Khmer gerichtet. Die meisten wären schon froh, wenn es überhaupt gültige Rechtsprinzipien gäbe. Jutta Lietsch
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