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Dromedare als wilde Vampire

Er zählt zu den erfolgreichsten Illustratoren der ehemaligen DDR. Ganze Generationen sind mit den unkonventionellen Figuren Manfred Bofingers groß geworden. Auch in der alten Bundesrepublik fanden seine Kinderbücher Anerkennung und Verbreitung. Nun ist ein autobiographisches Geschichtenbuch des Cartoonisten erschienen, das fast ohne Zeichnungen auskommt. Ein Besuch von Andreas Hergeth

Koschenka ist der erste an der Tür. Schmiegt sich ans Bein, umrundet und beschnuppert den Besucher, schleicht sich aber schnell von dannen. Koschenka, ein Kater, den die abgezogenen russischen Offiziere zurückließen, der im Tierheim landete und jetzt in Berlin-Treptow wohnt. Bei Familie Bofinger.

Manfred Bofinger, 57, ist einer, der einem noch die Hand zum Willkommensgruß drückt. Einer, mit dem man beim Kaffeekochen prima über Gott und die Welt plaudern kann. Ein charmanter, talentierter Erzähler. Zudem gelernter Schriftsetzer, freiberuflicher Grafiker und Karikaturist – und waschechter Berliner. Deshalb kann er wunderschöne Geschichten aus seinen Kindheitstagen im Nachkriegs-Berlin erzählen. Die hat er aufgeschrieben. Dabei ist ein Buch herausgekommen, das einfühlsam und detailliert von längst vergessenen Spielen, von Gerüchen und Erlebnissen handelt. „Der krumme Löffel“ (Aufbau Verlag Berlin) verzaubert und weckt mit seinen zweihundert Minigeschichten Assoziationen beim Leser. Egal, wie alt der ist.

Wenn der Zeichner über Kinderspiele schreibt, setzt sich die eigene Erinnerungsmaschine in Gang. Ach ja, früher hast du auch die Treppen mit einem „gewaltigen todesmutigen Satz“ genommen. Das hat schön gekracht, Spaß gemacht, auch wenn die Eltern immer mahnten, bloß aufzupassen. Lange vergessen. Jetzt wieder aus der Versenkung geholt. Plötzlich hüpft man wieder, wenn auch nicht ganze Treppenabsätze, so doch wenigstens die letzten fünf, sechs Stufen auf einmal hinab. Das kracht schön und macht Spaß. Oder Gerüche: „Besonders intensiv roch es im Winter, wenn in den Mülltonnen heiße Asche war“, erzählt Manfred Bofinger. Und es roch gut, weiß der Teufel warum. Doch so einen Duft gibt's heute nicht mehr. Dafür ist da dieses Stück Literatur, das der Autor in diesen Wochen in unzähligen Lesungen in Ost- wie Westdeutschland vorstellt. Selber schuld. Warum schreibt er auch so ein herrliches Buch, das nach einer Verfilmung geradezu schreit.

Aber auch ohne den „krummen Löffel“ ist Manfred Bofinger viel auf Reisen. Liest aus seinen Kinderbüchern, mit denen ganze Generationen aufgewachsen sind. In Ost und West. Denn Kinderbücher aus der DDR waren, mal abgesehen vom meist miserablen Papier, erste Sahne – sowohl was Geschichten als auch was Illustrationen anbelangt. Deshalb wurden einige Titel auch von Westverlagen ins Programm aufgenommen, andere von DDR- Verlagen billig im „Feindesland“ verhökert oder von Verwandten verschickt. Als Dankeschön für Tütensuppen und dergleichen. DDR-Kinderbücher waren Qualitätsbücher, kein schnöder Ramsch – wenn auch DDR-gemäß stark idealisierend, mit propagandistischem Unterton und mit vielen Tabus belegt.

Das weiß auch Bofinger. Schüttelt leicht mit dem Kopf und krault sich den Rauschebart: „Viele Kinderbücher sind heute genauso weit von der Wirklichkeit entfernt, nur andersherum.“ Wer sich in den Buchläden auskennt, weiß was er meint. Niedlich-blöde Gutenachtgeschichten, in denen das richtige Leben nicht vorkommt. „Damit die Kinder die Klappe halten, keine Fragen stellen. Dabei ist der Alltag für sie doch erlebbar“, erklärt Bofinger, „die Kleinen bekommen doch auch Armut, soziale Kälte, Skins oder Ausländerhaß mit. Sie haben Fragen und wollen Antworten.“ Doch die gibt's bei Benjamin Blümchen & Co. nicht. Wohl aber in den Büchern von Manfred Bofinger. Zum Beispiel in dem längst vergriffenen Kinderbuch „Der kleine Nazi“. Da schlüpft eines Tages ein kleines Braunhemd aus einem Ei – und alle sind ratlos, Lehrer, Bürgermeister, Polizei. Einfach umerziehen? Zu schwierig. Oder wegsperren? Auch keine Lösung. Was also tun mit dem kleinen Nazi, der mit dem hochgestreckten Arm schon geboren wurde? Gewohnt unkonventionell bietet Bofinger den kleinen Lesern erstaunliche Varianten einer anderen Verwendung, unter besonderer Berücksichtigung des Armes. So ein Dummbeutel würde sich zum Beispiel gut als Marktschreier machen, als lebende Werbeboje. „Spiel drei“, „Viel Schwein“ oder „Dream high“ – klingt doch alles besser als „Sieg Heil“, oder?

Ähnlich ist „Graf Tüpo“ angelegt, ein schlichtes und doch geniales Büchlein. Die „Helden“ sind verschiedene geometrische Figuren, die sich immer wieder anders mischen und so Neues zeigen, erzählen. Die schwarzen, weißen und roten Quadrate, Kreise, Rechtecke etc. liegen als Pappe bei. Zum Nacherzählen und selber Geschichtenerfinden. Damit ist „Graf Tüpo“ auch therapeutisches Spielzeug. Eins, das sein zeichnerischer Vater gern selbst im Gepäck hat, wenn er zur Landesnervenklinik Sachsen- Anhalt fährt. Da sitzt der Kinderfreund dann sechs Menschlein zwischen zehn und achtzehn Jahren gegenüber, allesamt psychische Fälle, auch Autisten. Mit insgesamt sechs Gruppen macht Bofinger genau das, was er bei „normalen“ Kindern auch versucht: Einen Zugang über Spiele zu finden. Da kriegt jedes Kind dann eine Pappe in die Hand, trennt die Figuren heraus und baut sich seinen eigenen Grafen Tüpo, hat ihn dann zu beschreiben.

Ein anderes Spiel heißt „Ich als Tier“. Welches Tier würde man gerne sein, wenn einem die Macht zum Wechseln gegeben wäre? Da wünscht sich dann ein kleiner schmächtiger Junge, ein Wolf mit gefletschten Zähnen zu sein. Und ganz viele der „psychischen Fälle“ möchten fliegen können. Poetisch ist das von Bofinger erdachte „Weihnachtsspiel“. Auf dem Papier werden verschiedene Dinge verpackt, die man an deren Umriß erkennen könnte. Könnte. Nicht alles entpuppt sich als das, was es von außen scheinen mochte. „Der kleine Prinz“ läßt grüßen.

Einmal im Jahr ist er für zwei Tage in der Landesnervenklinik. Reicht die kurze Zeit überhaupt, um wenigstens kleine Schritte anzuschubsen? Ja. „Ein Kind malte die ganze Zeit nur in Grau und Schwarz. Aber plötzlich tauchten in seinen Bildern Farben auf.“ Farben. Im „Gänsehautbuch“, dem „ABC des Grauens für tapfere Kinder und Eltern“, trieft auf manchen Seiten sattes Rot, zum Beispiel aus Dromedaren, die eigentlich Vampire sind, aus allerlei Mäulern, und es sabbert hier und da. Ganz widerlich sind die Kellerasseln im Haar. Genau vor denen hat man sich als kleiner Junge immer so geekelt.

Da paßt die schöne Geschichte aus Kindertagen, die so wohl jeder erzählen kann. Nur als Intro ins eigene Kinderbuch kann sie eben nicht jeder hineinschreiben. Stichwort Verballhornung des Namens. Also, der kleine Manfred, der Bofinger. – Na? Da bietet sich doch Pofinger an, auch Popelfinger ist sehr schön. „Damals fand ich das höchst ärgerlich. Heute weiß ich, daß die Rufer Phantasie besaßen.“

Bofinger sammelt Spiele aus aller Welt. Zeichnet dazu, läßt sich schöne Texte von Ingrid Heller schreiben. Da hatte dann selbst zu DDR-Zeiten keiner etwas dagegen, wenn in dem Buch „Der kürbisgroße Spielball“ 25 Spiele aus aller Welt auftauchten. Von Indien über die Mongolei bis Italien und Finnland. Das schöne, jetzt fünfzehn Jahre alte Buch steht heute in der Kinderabteilung der Berliner Amerika-Gedenkbibliothek. Und wer sich auf nur einen Schlag einen Überblick zum vielseitigen Schaffen Manfred Bofingers verschaffen will, greift am besten zu einer umfangreichen Publikation, dem „Dicken Bofinger- Buch“, 1995 im Eulenspiegel Verlag erschienen. Da sind Hunderte Karikaturen zu sehen. Und eine kleine Anzahl der kaum bibliographisch aufgearbeiteten Plakatentwürfe.

Für das Ostberliner Kabarett „Die Distel“ hat er oft gearbeitet, für Theaterstücke, Kinderrevuen oder Volksfeste gezeichnet, und auch die Plakate für seine zahlreichen, fünf bis sechs Ausstellungen pro Jahr. Die Arbeiten des Zeichners erzählen viel von ihrem Schöpfer. Er hat nichts übrig für Dummheit oder Eitelkeit, verabscheut Intoleranz. Deshalb geht er zeichnerisch mit den Schwächen der Menschen ziemlich hart ins Gericht. Aber er ist ein genauer Beobachter, der sich seine Liebe und seine Freundlichkeit zu den Mitmenschen bewahrt hat. Besonders zu den Kindern. Die eigenen sind überhaupt schuld daran, daß sich Bofinger, nachdem er sich seit 1966 mit dem Illustrieren von Literatur beschäftigte, auch den Büchern für kleine Leute zuwandte. Seinen drei heute längst erwachsenen Kindern wollte er andere, bessere – seine – Bücher in die Hand drücken.

Seit 1987 ist der Zeichner mit seiner zweiten Frau verheiratet, Gabriele Bofinger. Die Fünfzigjährige war bis Mitte Dezember 1998 die Leiterin eines Projektes in Berlin-Treptow, das sogenannten „Lückenkindern“ Betreuung anbot. Jetzt ist die Stellenförderung ausgelaufen, und es kümmert sich kein Mensch mehr um Kinder, die schon zu alt für den Hort sind.

Nesthäckchen Luise, vor zehn Jahren ganz überraschend geboren, denn Frau Bofinger konnte angeblich gar keine Kinder kriegen, ist der ganze Stolz von Papa. „Meine Tochter ist eine echte Zeichenkünstlerin“, schwärmt er, damit sozusagen seine Schülerin, aber noch viel mehr Ideengeberin. Und mit so einer „kleinen Maus“ bleibt man jung. Was kann einem Kinderbuchautoren besseres passieren?

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