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Suchanzeige Heiner Müller

Heiner Müller bewegte sich gekonnt in den Zwischenräumen der Systeme. Nach 1989 wurden jedoch auch seine Aufenthaltsräume abgerissen. Und wo steckt der große Guru heute? Ein Vivat zum 70. Geburtstag des verblichenen Hexenmeisters der Geschichte  ■ Von Frauke Meyer-Gosau

Früher war alles besser, jedenfalls anders. Da stand die Mauer noch, im Intershop des Bahnhofs Friedrichstraße gab es Schnaps und Zigaretten zollfrei, und Heiner Müller feierte seinen 60. Geburtstag: am 9. Januar 1989 im Deutschen Theater zu Berlin, Hauptstadt der DDR. Auf einer langen Tafel in der Saalmitte waren Braten-, Wurst- und Käsehäppchen angerichtet, gekrönt von Mayonnaise- und Tomatenmarkkleckschen, in denen hie und da noch eine Gurkenscheibe ruhte. Man trank Rotkäppchen-Sekt und Radeberger, und die rote Grütze war von jener trübfesten Beschaffenheit, deren Anblick einen sofort heimelig in die fünfziger Jahre zurückversetzte. Ein schönes, ein würdiges und gutgelauntes Geburtstagsfest war das, und „der Heiner“ – im notorischen Heiner- Müller-Kostüm mitsamt dazugehörigen Requisiten: Zigarre und Whiskyglas – durchwanderte es stillvergnügt. Mochte aber bis dahin noch dem einen oder anderen Westgast unterm nivellierenden Rauschen der Postmoderne die Staatsangehörigkeit des Jubilars mehr und mehr aus dem Blick geraten sein, hier war sie nun nicht länger zu übersehen: DDR-Dramatiker Müller feierte einen DDR-Geburtstag vom Feinsten und Allernettesten. Gemütlich!

Zu diesem Zeitpunkt war der „Lohndrücker“ in Heiner Müllers eigener Inszenierung bereits auf der Bühne des Deutschen Theaters zu sehen, die Proben zur „Hamletmaschine“ sollten im Herbst beginnen. Der 40. Jahrestag der DDR stand noch bevor und ebenso Heiner Müllers verlegene Verlesung eines Aufrufs zur Gründung freier Gewerkschaften auf der großen Künstlerdemonstration am Alexanderplatz. Und natürlich die „Wende“ mit all ihren Folgen. Am 9. Januar dieses Jahres aber schien alles noch ganz in der verqueren deutsch-deutschen Ordnung, so daß die Prominenz von Freier Volksbühne und Schaubühne auf der beseligten Rückfahrt mit der S-Bahn von Ost- nach West-Berlin zum guten Schluß noch ein Päckchen Underberg- Flaschen knackte, das Otto Sander behende aus dem Intershop herangeschafft hatte: Schöner konnte doch deutsches Theater nie sein! Auf Überraschungen war man nicht gefaßt, wenigstens auf die großen politischen nicht, die folgten. Die „Wende“ habe auch ihn „kalt erwischt“, sagte Heiner Müller später.

Ihn ja womöglich besonders. Denn niemand hatte sich derart mit seiner Theaterarbeit in den politischen und geographischen Zwischen-Räumen zwischen den Systemen installiert, niemand auch wie er mit allegorischen Rekursen auf die gemeinsame Geschichte der Opfer schließlich beiden Seiten die Rechnung aufgemacht. All dies exekutiert mal an diesem, mal an jenem historischen Material, einmal in dieser, dann in jener und dann noch in einer dritten, vierten, fünften theatralischen Form, sei es nun in Austin/Texas, Berlin oder Sofia, als Autor oder als Regisseur – Müller, Tausendsassa und Jetset- Dramatiker von Weltniveau, der zugleich unbeirrbar ernst an seinem dramatischen Projekt festhielt: der Beschwörung der Toten, dem imaginären Dialog mit ihnen, den Zeugen der Geschichte.

Die achtziger Jahre besonders waren seine Zeit gewesen. Jetzt erst hatte der BLUTKOTSPERMASCHREI ihn jenseits eines kleineren Zirkels von Kennern im Westen bekannt gemacht und schließlich zu einer Art Guru der besserdenkenden Apokalyptiker werden lassen. Was nicht wenige seiner Fans dabei mit ihm teilten, war der Verlust der Hoffnung auf den Sozialismus als eine reale gesellschaftliche Alternative und dann auch das abfällige, bittere Lachen darüber.

Heiner Müllers West-Wirkung war insofern auch ein Spät-Achtundsechziger-Phänomen, und wenigstens westlicherseits schien es so, als gehe es längst um nichts Wirkliches mehr. Alles war und wurde Material, und Müller war der Hexenmeister, der die Knochenmänner der Geschichte zum Tanzen brachte.

Auch in der DDR aber konnte er – in den übrigen Staaten des Warschauer Pakts nach eigenem Bekunden nicht gerade ein Exportschlager und innerhalb des eigenen Landes noch lange des „perspektivlosen Defätismus“ und „Geschichtspessimismus“ geziehen – endlich den höchsten Literaturpreis in Empfang nehmen: Das Weltniveau war schließlich auch daheim angekommen.

Der Einsturz der staatlichen Verhältnisse stellte all das auf den Kopf. Während die DDR als politisches System wegbröselte, brach auch Müllers politisch-ideologisches Koordinatensystem zusammen, das sich jahrzehntelang unangefochten auf seine Auffassungen von „der Geschichte“ gegründet hatte. Zur großen Verwunderung der meisten zeigte sich da, daß die Grenzen der DDR eben doch auch die Grenzen der Welt Heiner Müllers gewesen waren. Nicht räumlich natürlich und auch theoretisch und literarisch nicht. Aber in dem Gefühl, das alle Utopieverluste, allen zunehmend „verzweifelten Zynismus“ überdauert hatte: dem Gefühl, im letzten Grund doch auf der politisch richtigen Seite zu stehen – die „Diagnose eines Krankheitsbildes“, als die Heiner Müller seine künstlerische Arbeit die längste Zeit angesehen hatte, hatte den möglichen realen Tod des Patienten offenbar nicht ernsthaft ins Auge gefaßt.

Die sichernden Grundgewißheiten, auf denen das Müller-System geruht hatte, waren nach 1989 wie ausgelöscht. Für Müller hieß das kraß und klar: „Die Utopie ist weg, ein Feindbild ist weg, und jetzt gibt es eine verzweifelte Suche nicht nach Utopien, sondern nach neuen Feindbildern. [...] Es geht gegen alle.“ Weniger nicht: Wie die Springteufelchen aus der Kiste schnappten die ganz alten Bilder und Welt-Anschauungen wieder hoch, blitzeblank noch nach vier Jahrzehnten und von historischen Einsichten und Erfahrungen scheinbar gänzlich ungetrübt. „Demokratie gibt es ja gar nicht. Es sind wenige, die auf Kosten von vielen leben“, und „ohne die DDR als basisdemokratische Alternative zu der von der Deutschen Bank unterhaltenen Demokratie in der BRD wird Europa eine Filiale der USA sein“. Sela! Das war für viele West-Fans zum Ächzen, einigen DDR-Intellektuellen aber schien es tröstlich, daß es „der Heiner“ war, der dergleichen öffentlich von sich gab.

Da wurde der Dramatiker zum Pragmatiker, zu einem pater patriae des untergehenden Reiches, der Bedrohtes schützte und zu retten versuchte, was irgend noch zu retten war: die Akademie der Künste zuerst, deren letzter Ost-Präsident er 1990 wurde. Müller fusionierte sie gegen massive Widerstände mitgliederschonend und geschickt mit der West-Akademie. Und für das in der Brecht-Weihe fast schon weggetrocknete, im Nach-„Wende“-Führungs-Hader dann arg zerrupfte Berliner Ensemble stand er mit der Autorität des Weltdramatikers ein, indem er ihm als Intendant zwecks Zukunftssicherung eine Kur aus „Brecht und Müller“ verordnete.

Nach jahrzehntelang scheinbar lässigem Schweben zwischen den Systemen hatte Heiner Müller also schließlich wieder angedockt ans Mutterschiff mit der verbleichenden Aufschrift „DDR“. Der „Angriff auf die Wirklichkeit“, in früheren Jahren der Theaterarbeit vorbehalten, wurde danach mit anderen Mitteln und direkt in den kulturellen Apparaten geführt. Da gab es kein neues Müller-Stück mehr, sondern Inszenierungen: Brecht und Müller am BE, den „Ring“ in Bayreuth. Und Interviews, leichthin zelebriert von einem in seiner Virtuosität von Talkshow zu Talkshow noch gewinnenden, immer pointierter, schneidender formulierenden Statement- Rhapsoden.

„Natürlich sind zehn Deutsche dümmer als fünf Deutsche“ – jaha! Natürlich! Für solche Bonmots hätte wenigstens die westliche Intellektuellen-TV-Fraktion den Meister eins ums andere Mal doch glatt aufs Haupt küssen mögen, während seine Charakterisierung von Hiroshima als „jüdische Rache für Auschwitz“ immerhin nicht ganz denselben Enthusiasmus auslöste. Im Prinzip aber war es schon so: Müller konnte sagen, was er wollte, und die Antwort war zustimmendes Gejohle, mal von der, mal von der anderen Seite. Als angenehm kann man sich dieses Dasein als Kultur-Skandalnudel vom Dienst allerdings wohl kaum vorstellen, zumal der Lebensernst hinter den Sätzen keineswegs gemildert war. Ach, ganz im Gegenteil.

Am Ende standen wieder, wie anfangs, Gedichte. Dazu kam noch ein Stück im Nachlaß, das riesige Blätterkonvolut des Nachlasses überhaupt: „Was bleibt. Einsame Texte, die auf Geschichte warten.“ Der depressiv-pathetische Satz von 1974 gilt. Ob aber umgekehrt auch „die Geschichte“, ob denn wenigstens LeserInnen und ZuschauerInnen auf sie warten, das fragt sich noch: Das Müller-Material aus vierzig Jahren Arbeitszeit, wer macht Gebrauch davon?

In der Woche seines 70. Geburtstags steht wenigstens dem Theater offenbar der Sinn nach ganz anderen Untergängen. Bevorzugt wird der „Untergang der Titanic“, Frischs „Andorra“ kehrt zurück, und mit „Tasso“ ist das klassische deutsche Künstlerdrama am häufigsten gefragt. Dazu singen und tanzen die „Comedian Harmonists“ und einmal kocht Christiane Herzog gar Alfred Biolek – aber kein Müllersches „Monster aus Schrott und Menschenmaterial“ weit und breit. Ist denn niemand mehr da, der zeigen will, wie „Körper und ihre Konflikte mit Ideen auf die Bühne geworfen“ werden?

Fast niemand jedenfalls. Nur am äußersten südwestlichen Rand des deutschsprachigen Theatergebiets, in Freiburg und an Stefan Bachmanns Basler Junggenie-Bühne, traut sich wer. Aber auch dort, sieht man genauer hin, fetzen keineswegs wilde Nachgeborene historisch gewordenen Stoff. Vielmehr ist es der verdiente frühere Intendant Werner Düggelin, der Müllers internationalen Großerfolg „Quartett“ in Szene setzt: Klassiker Müller! Und sonst? Eine halbe Handvoll szenischer Lesungen und Matineen, das ist alles und spielt sich nur im Osten der Republik ab: das Landestheater Dessau zu Gast mit „Medeamaterial“ in Castorfs Volksbühne, Geburtstagslesung im Leipziger Theater und im Berliner Brecht-Haus ein pralles Müller-Guck-und-Reflexions-Wochenende – alles ganz wunderbar, aber im Vergleich zur früheren Innigkeit mit „dem Heiner“ doch ziemlich wenig. Der Autor Müller – im Augenblick wenigstens scheint er verschwunden.

Eher im stillen führt der Weg da erst einmal zurück ins Textgebirge selbst, das in einer Gesamtausgabe neu aufgefaltet wird: eine Arbeit zwischen Goldgräberei und Steineklopfen, doch was dabei zutage kommt, ist kein Germanistenfutter. Denn von den Prosatexten, die im März als Band 2 der Werke im Suhrkamp Verlag erscheinen und am Sonntag im Berliner Ensemble vorgestellt werden, stammen die frühesten aus den frühen fünfziger Jahren – Übungstexte, Anfängersachen. Diejenigen von ihnen aber, die biographisch für Heiner Müller zentral waren, wanderten im folgenden durch das gesamte Werk in all seinen Gattungen. Letzte Verarbeitungsstufen finden sich noch in kurz vor dem Tod notierten Texten.

Hier kann man dem Autor also bei der Arbeit zusehen, und sichtbar werden dabei nicht zuletzt anhaltende Fluchtbewegungen vor subjektiver Schuld. Das Ausweichen in abstrahierende Modelle, die von einem verantwortlich handelnden Subjekt nichts mehr wissen wollen – „die Geschichte“ zuoberst –, wird hier in seiner biographischen Entwicklung wie in der Schichtung und Vernetzung der Texte deutlich. Und eine neue Müller-Lektüre könnte daraus wohl folgen, die die ideologisierenden Panzerungen von Text und Autor hinter sich läßt und den Weg zum „Material“ als einem beweglichen Stoff endlich frei macht. Auf einen derart ins Leben zurückgeholten Heiner Müller, oh ja, möchte man dann in der S-Bahn doch gern mal wieder ein Underberg-Fläschchen leeren: Vivat also zum 70!

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