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Der Auftrag

Am Samstag wäre Heiner Müller 70 Jahre alt geworden. Außer in Berlin wurde auch im Sportlerheim von Eppendorf Müllers Geburtstag mit einer Lesestunde gefeiert. 130 Gäste waren gekommen, um den berühmtesten Sohn des sächsischen Industriedorfes zu ehren  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Heiner Müller wurde am 9. Januar 1929 in dem vorerzgebirgischen Industriedorf Eppendorf geboren. 1933 wurde sein Vater, der der linkssozialdemokratischen SAP angehörte, für ein Jahr im KZ interniert. Danach mußte die Familie Eppendorf verlassen und zog nach Bräunsdorf. Seit Müllers Tod besuchen manche sein Grab auf dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof, wie früher das von Jim Morrison auf dem Pariser Père Lachaise. Statt Joints legt man ihm eine Zigarre aufs Grab und kippt vielleicht noch etwas Whisky drüber.

Leute, die, wenn sie von einem Bettler um Geld angesprochen werden, einen besonders teuren Whisky für sich bestellen und dazu noch eine Luxus-Zigarre anstecken statt ihm was zu geben, damit des Bettlers Wut größer werde, auf daß er die Klassenverhältnisse beginnen möge zu verändern, gibt es nicht mehr im sogenannten neuen Berlin. Dem Dramatiker an seinem siebzigsten Geburtstag zu Ehren, veranstaltete das Mittelsächsische Theater eine Lesestunde im Sportlerheim seines Geburtsortes.

Eppendorf liegt zwischen Chemnitz und Freiberg und hat 5.100 Einwohner. Wenn man mit der Bahn fährt, ist Eppendorf etwa vier Stunden von Berlin entfernt. Weil der Osten mittlerweile wieder weiter Richtung Osten gerückt ist, heißt der ehemalige Hauptbahnhof der Hauptstadt der DDR nun schlicht Ostbahnhof. Die neuen „OST“-Buchstaben neben den alten „BAHNHOF“-Buchstaben über dem Haupttor haben etwas unangenehm Auftrumpfendes, das andererseits – wenn man's als Denkmal nimmt – auf die Geschichte des Triumphs der BRD über die DDR verweist. Die grau abgeblätterten Häuser und Fabriken am Rande der Strecke nach Dresden sind oft verlassen und sehen aus wie Nachkriegsdeutschland. Die mauvefarbenen Fassaden einiger neuer Einfamiliengruften wirken dagegen irgendwie trostlos bescheuert.

In der Regionalbahn von Dresden nach Freiberg sieht man formschöne Landschaften vorbeiziehen, darf aber nicht rauchen. Das hätte Heiner Müller nicht so gut gefunden. In Freiberg hatte Novalis mal studiert und Carl Maria von Weber seine erste Oper aufführen lassen. Jetzt werden hier Rohlinge für Euro-Münzen und Kosmetika für Rußland hergestellt.

In Freiberg steigt man in den roten Golf von Dr. Christoph Nieder, dem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des Mittelsächsischen Theaters, das von Freiberg und Döbeln aus die Umgebung mit Kultur versorgt, was durchaus auf Gegenliebe stößt: Die Vorstellungen sind zu 75 Prozent ausgelastet. Am Ortseingang von Eppendorf steht ein Schild mit zwei bunten Kindern: „Fahr vorsichtig – Es könnte auch dein Kind sein.“ Das Geburtshaus von Heiner Müller in der Freiberger Straße 61, unter naßkaltem Himmel, sieht so nichtssagend schlicht aus wie erwartet. Kein Schild erinnert an den, „der den Namen Eppendorfs in die Welt hinausgetragen hat“, wie es später heißen wird. Nur eine Frau guckt jedesmal hinter der Gardine nach draußen, wenn Fremde das Haus angucken, und hat jedesmal Angst, daß es verkauft wird, weiß der Freiberger Dramaturg Dr. Roland Dreßler.

Der Bürgermeister

Im Eingangsbereich des Sportlerheims Eppendorf, ein Flachbau vor einem Sportplatz, erinnern zahlreiche Fotos an die bewegte Geschichte des hiesigen Fußballclubs. Im Gastraum am Tresen fragt Dr. Roland Dreßler, ob es auch genug Gläser gäbe. Die Veranstaltung heißt „Auf einen Whisky mit Heiner Müller“, und jeder soll Whisky zu Ehren des letzten deutschen Schriftstellers bekommen. Eine Bekannte kommt vorbei: „Sind Sie die Freie Presse (i.e. die Chemnitzer Bezirkszeitung) oder ein Mensch?“

Alle sind etwas nervös, ob auch genug Leute kommen. Der Bürgermeister Helmut Schulze hatte in 70 Briefen potentiell Interessierte Eppendorfer auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht. Er erzählt, daß das Theater zum ersten Mal seit 1990 in Eppendorf ist. Dann sprechen wir ein bißchen über den Ort. Wirtschaften ist schwer mit einem Etat von sechs Millionen Mark. Die Abwanderung, die Eppendorf alljährlich um 100 Einwohner kleiner werden ließ, konnte gestoppt werden; mit der Arbeitslosigkeit hätte es auch schlimmer kommen können. Glücklicherweise hat der Vorruhestand die Hälfte aller Mitarbeiter eines Betriebs, der schließen mußte, „dahingerafft“. Am Nebentisch sagt jemand: „Der Vater von Wagners erster Frau war hier Drahtbieger.“

Nach dem Tod von Heiner Müller habe man daran gedacht, eine Straße umzubenennen, sagt Schulze. Müllers Frau hätte die Genehmigung auch schon gegeben gehabt. Dann war es aber schwierig, eine passende Straße zu finden. Die Freiberger Straße, in der das Geburtshaus steht, hat tausend Anwohner. Da wäre eine Umbenennung schwer durchzusetzen gewesen.

Kurz dachte man auch an eine kleine Sackgasse, doch „eine Straße mit zehn Anwohnern Heiner-Müller-Straße zu nennen – damit hätten wir uns blamiert“. Das letzte Wort des Gemeinderats in dieser Sache: „Erst mal abwarten, wie sich der Heiner Müller entwickelt.“ Helmut Schulze ist seit 1990 Bürgermeister von Eppendorf. Welcher Partei er angehöre? – „CDU, da bin ich aber auch erst 1990 eingetreten.“ Als er das sagt, lacht er ein bißchen. Wie Heiner Müller und überhaupt viele von hier hat er warmherzige braune Augen.

Der Chronist

Manfred Wünsche, der Ortschronist, raucht Ernte 23. Bescheiden lehnt der ehemalige Lehrer jedoch den Titel ab. Er interessiere sich nur für die Ortsgeschichte und sammle Diesbezügliches. Demnächst wird er ein Buch mit dem Titel „Eppendorf im Wandel der Zeiten herausbringen“. Am frühen Morgen war Herr Wünsche schon in einer Sondersendung zu Ehren Heiner Müllers im MDR zu hören. Eine Bekannte hätte ihn vormittags angerufen und gesagt: „Ich habe dich im Radio gehört.“

Manfred Wünsche ist ein Jahr älter als Heiner Müller und hat die gleiche Schule wie der Dramatiker besucht. Nur eine Klasse über ihm. Wahrscheinlich sei man sich damals über den Weg gelaufen, ohne voneinander zu wissen. In den achtziger Jahren hatte Wünsche Fotos von Müller-Aufführungen in der Schule aufgehängt und sich auch darum bemüht, den Dramatiker für einen „runden Tisch“ in Eppendorf zu gewinnen.

„Manche Trampelagen“ mit engstirnigen Funktionären hätte es gegeben. Dann hatte es doch nicht geklappt. „So hat man doch einige Berührungspunkte mit diesem großen Eppendorfer, und ich freue mich darüber.“ Ein persönlicher Kontakt kam leider nie zustande, bedauert der Chronist, der vor allem an Müller schätzt, daß er „gegen das Vergessen“ angeschrieben habe. Der Vater Kurt Müller habe in Eppendorf den Spitznamen „Mickymaus“ gehabt, weiß Herr Wünsche, „weil er ein gefürchteter Diskussionsteilnehmer gewesen war“, und „eine alte Dame, die Müller noch kannte, ist letztes Jahr gestorben.“ Viele Eppendorfer hätten Müller nicht gelesen, weil er ein schwieriger Autor sei. Den Namen würden aber alle kennen. In Berlin ist es sicher nicht anders.

Viele „junge, begeisterte Heiner-Müller-Fans“ pilgern nach Eppendorf und besuchen Herrn Wünsche. Er führt sie dann gern zu den Stätten, von denen Müller in seinem Buch berichtet. Wobei er sich teilweise auch geirrt hatte. Das Kriegerdenkmal auf dem Eppendorfer Friedhof, das Müller als Mutterfigur beschreibt, sei in Wirklichkeit ein sterbender junger Mann.

Der Saal ist mittlerweile sehr gemischt überfüllt. 130 Menschen aus Eppendorf und Umgebung sind gekommen, um auf Heiner Müller, „den Eppendorfer Heimatdichter“ (Roland Dreßler), einen Whisky zu trinken. Seltsamerweise raucht kaum jemand. Wohl aus Höflichkeit. Rudolf Dreßler berichtet aus Müllers Leben, wobei er sich darum bemüht, den National- und Kleistpreisträger vom Vorwurf des Geschichtspessimismus zu entlasten. Die Stellen aus seinem Buch, die sich mit Eppendorf beschäftigen, werden zitiert: „Meine Mutter erzählt die Geschichte vom Salzhering: Ein Hering wird an der Stubendecke aufgehängt und alle dürfen daran lecken. Armut war ihre Grunderfahrung. (...) Mein Vater fiel in der Schule durch Intelligenz auf, durch Interesse für Lesen und Schreiben. Deshalb die Empfehlung der Lehrer: Der gehört nicht in die Fabrik, sondern in irgendeine behördliche Schreibstube. (...) Eine Geschichte aus Eppendorf: Es gab dort ein Schwimmbad, sehr gut gebaut, mit Sprungturm und allem. Es war von Krediten bezahlt worden, die als Vorschuß auf das Morgensternsche Erbe gegeben wurden. Das Morgensternsche Erbe war eine große erzgebirgische Massenphantasie, ausgelöst durch ein Gerücht. In den zwanziger Jahren soll in den USA ein Millionär namens Morgenstern gestorben sein (...) und erzgebirgische Gemeinden zu seinem Haupterben eingesetzt haben. In Erwartung dieses Morgensternschen Erbes, das nie kam, ist viel gebaut worden. Es gab Wachen auf Kirchtürmen in Erwartung des großen Geldtransports.“ Zwei Morgensternsche Verwandte sitzen im Publikum.

Als die Schauspieler Tamara Korber und Andreas Pannach aus „Krieg ohne Schlacht“, aus der „Weiberkomödie“, aus „Zement“, „Herzstück“ und auch einige späte Gedichte vorlesen, meint man manchmal tatsächlich die leise Stimme des Dichters zu hören. Zwischendurch hält jemand aus dem Publikum kurz ein Schild hoch. Darauf stand: „HM – Nicht abgehauen. Hiergeblieben.“ Was sich wohl auf die grassierende Landflucht bezieht. Die Geburtstagsfeier schließt mit dem Zitat: „Es ist ein Privileg für einen Autor, in einem Leben drei Staaten untergehen zu sehen. Die Weimarer Republik, den faschistischen Staat und die DDR. Den Untergang der Bundesrepublik Deutschland werde ich wohl nicht mehr erleben.“ Dann klatschen alle lange.

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