Hund, Katze, Brot, Zucker, Milch

Der zukünftige Schaubühnenchef, Thomas Ostermeier, gab im Berliner DT sein Debüt im Großformatigen. Mit einem Märchen von Maeterlinck sollte die soziale Utopie auf die Bühne, ging dann aber doch eher unter  ■ Von Petra Kohse

Einhundertachtzig Journalisten hätten sich angemeldet, hieß es, und tatsächlich wogte und grüßte es in den vorderen Reihen ganz ungemein. Solch einen Zustrom kennt man in Berlin eher aus besseren Schaubühnenzeiten, doch genau darum ging es ja diesmal auch. Der Regisseur Thomas Ostermeier, der ab Herbst mit der Choreographin Sasha Waltz die künstlerische Leitung der Schaubühne übernehmen wird, hatte – mit Ausnahme von „Disco Pigs“ in Hamburg, das später aber in die Baracke überführt wurde – erstmals außerhalb seiner Baracke inszeniert: Im Deutschen Theater brachte er „Der blaue Vogel“ heraus, ein symbolistisches Märchen von Maurice Maeterlinck (1862–1949) aus dem Jahr 1908.

Wieder kein Stück aus dem Kanon, sondern nach allerlei Erstaufführungen nun eine Rarität, doch mit sechzehn Schauspielern in über achtzig Rollen, einer Drehbühne und üppig Kostümen versuchte sich der Dreißigjährige der Neugier nach seiner Fähigkeit zum Großformatigen zu stellen, ohne dabei sein Barackenpublikum zu verschrecken. Denn natürlich war ihm dieses auch ins Haupthaus gefolgt. „Ich war schon hundert Jahre nicht mehr hier“, bemerkte eine jüngere Zuschauerin in der sechsten Reihe, und da war sie sicher nicht die einzige.

Der Hipnessfaktor des Deutschen Theaters nämlich tendiert inzwischen gegen Null. Außer daß seine Leitung auch die Baracke als eigenständige Spielstätte hervorgebracht hat, macht der sechzigjährige Intendant Thomas Langhoff augenblicklich nur dadurch von sich reden, daß er länger im Amt bleiben will als vorgesehen. Berlins Kultursenator Peter Radunski indessen zeigt sich eher unwillig, Langhoffs Vertrag über das Jahr 2001 hinaus zu verlängern. Nicht aus künstlerischen Gründen natürlich, sondern wegen der finanziellen Disziplin. Das Deutsche Theater hat vier Millionen Mark mehr ausgegeben, als ihm zustand – probiert das nicht zu Hause aus!

Die vier jungen Herren allerdings, die sich nach Aufführungsende als Verantwortliche für Regie und wahrscheinlich Bühne (Jan Pappelbaum), Kostüm (Rufus Didwiszus) und Musik (Jörg Gollasch) dem Applaus stellten, dürften dieses Defizit trotz ihrer – sie können auch anders! – funkelnagelneuen Anzüge nicht zu sehr vergrößert haben. Die dreistündige Inszenierung setzte weniger auf fette Austattung als auf Vorstellungskraft – teilweise bis an die Grenze zum Kinderstauntheater.

„Der blaue Vogel“ hat alles, was ein Märchen braucht. Arme Kinder, eine Fee, sprechende Tiere, beseelte Dinge, einen Auftrag, Abenteuer und eine Moral. Am Anfang spähen die Holzfällerkinder Mytyl und Tyltyl in der Vorweihnachtsnacht von ihrer Hütte aus auf den Tisch der Reicheleutekinder gegenüber. Da erscheint die Nachbarin als Fee und bittet für ihre kranke Tochter um einen blauen Vogel. Tyltyl hat einen, will ihn aber nicht hergeben, und der Fee ist er auch nicht blau genug. Sie gibt den Kindern einen Zauberdiamanten, der die Seele der Dinge enthüllt, und schickt sie auf die Suche nach dem blauen Vogel – begleitet von Hund und Katze, Brot, Zucker, Milch, Feuer, Wasser und Licht. Eine Wanderung durch das „Land der Erinnerung“ oder die „Glücksgärten“ beginnt, wo der blaue Vogel aber entweder nicht zu finden oder nicht zu fangen ist. Am Ende schenkt Tyltyl doch seinen eigenen Vogel her, der in der Zwischenzeit auch mächtig blau geworden ist, und die Feentochter wird gesund.

Die soziale Moral ist deutlich, dennoch zitiert das Programmheft einen Text des US-Philosophen Richard Rorty, in dem er sich auf John Steinbecks „Früchte des Zorn“ bezieht: „Solange Menschen in Not es schaffen, Opfer zu bringen, um Menschen in noch größerer Not zu helfen, darauf besteht Steinbeck, gibt es Brüderlichkeit und damit soziale Hoffnung.“

In der Inszenierung selbst taumelt das Grüppchen dann sehr hübsch zu live gespielter Musik (Harmonium, Trompete, Schlagzeug) auf der spitzkegeligen Drehbühne hinter einem Gazevorhang hin und her, und die Darsteller der Dinge und Tiere wurden gefühlvoll typorientiert mit bizarren Leder-/Gummi- oder Theaterrequisiten ausstaffiert. Doch gestaltetes Spiel kommt im eigentlichen Sinne nicht auf. Ostermeier illustriert mal ernsthaft verspielt, dann wieder albern verkitscht die Regieanweisungen, die teilweise sogar vorgelesen werden, doch als er am Ende der Geschichte angekommen ist, hat er aus eigener Kraft gar nichts erzählt.

Trotzdem die Darsteller so verschlagen, charmant, ängstlich oder elegisch sind, wie man es sich nur wünschen kann, Tilo Werner als Tyltyl, Gudrun Ritter als Fee, Bernd Stempel als Jungfrau Licht, Nina Hoss als Hund, Kay Bartholomäus Schulze als Nacht, Udo Kroschwald als Katze... – sie bleiben Abziehbilder. Dabei käme gerade der Katze in diesem Stück über soziale Utopie die Hauptrolle zu! Sie nämlich verrät die Kinder immer wieder und ist damit gleichzeitig Freiheitskämpferin der Dinge und Tiere, weil sie deren letztes Geheimnis vor den Menschen bewahren will. Der Dialektik dieser Figur jedoch mißt die Regie keine Bedeutung bei. Die Katze bleibt eine Type unter vielen, zu der sich die anderen indifferent verhalten.

Und plötzlich kommt einem der ganze antikapitalistische Sozial- Appeal, den das Barackenprojekt für sich beansprucht, nur noch dekorativ vor. Mit ein bißchen Leder, Gummi und Hängekleidchen ist noch kein Milieurealismus erreicht, ein Text von Rorty ersetzt nicht die ästhetisch-dramaturgische Konsequenz, und Federn in hochgereckten nackten Hintern lösen auch im Stadttheater keinen kathartischen Schrecken aus. Es ist, als ob jemand zu seinem Vater gesagt hätte: Gib mir mal dein Auto, dann zeige ich dir, wie Jungsein und Richtigleben geht. Und dann fährt er genau wie dieser, nur durch andere Viertel und ruft immerzu zum Fenster hinaus: Auf die Haltung kommt es aber an!