■ berlin spinnt: Virtuelle Liebe in Tegel
Ach, verliebt sind wir schon seit drei Jahren. Aber gesehen haben wir uns jetzt zum ersten Mal.“ Jessica kommt eben aus Norwegen, wo sie Öystein besucht hat, ihre große Liebe. Sie lebt in einem texanischen Wüstendorf, er in einer nordnorwegischen Kleinstadt. Und kennengelernt haben sich die beiden im Internet. Jetzt steht Jessica ziemlich hilflos am Flughafen Tegel und weiß nicht wohin mit sich und ihrem großen blauen Koffer.
Sie spricht kein Wort Deutsch und fragt mich etwas schüchtern, ob ich englisch spreche und ihr helfen könne: Sie hat, ebenfalls per Internet, ein Zimmer in einem Hotel gebucht, das nun aber kein Taxifahrer kennt; auch von der Adresse will keiner der Kutscher gehört haben. – Da fahren wir doch erst mal zusammen mit dem Bus in Richtung Stadtmitte, schlage ich ihr vor und gehe voran. Doch schon am Ausgang des Terminals wartet das nächste Hindernis. Ratlos kapituliert die Amerikanerin vor dem Fahrkartenautomaten. Sie sei noch niemals Bus gefahren, entschuldigt sich Jessica etwas nervös, Straßenbahn auch nicht. In ihrem wohl vierzigjährigen Leben sei sie überhaupt noch nicht aus ihrem winzigen texanischen Heimatdorf herausgekommen.
Und jetzt hat sie sich auf den Weg in das Abenteuer ihres Lebens gemacht: mit dem Flugzeug nach Norwegen. Und nun, auf dem Rückweg, muß sie ausgerechnet im Moloch Berlin Station machen und übernachten. Es ist schon merkwürdig, daß der Kulturschock „Große Welt“, die etwas unbeholfen wirkende Provinzlerin nicht vollends irritiert. – Doch Jessica ist verzaubert.
Ob sie ihren Öystein vorher wenigstens auf Fotos gesehen hat? O ja, Fotos hätten sie sich jede Menge geschickt, erzählt sie. Aber sie sei trotzdem mächtig aufgeregt gewesen. „Ist ja doch was anderes, wenn man sich zum ersten Mal wirklich sieht.“ Im Grunde wußte sie da jedoch längst, daß Öystein der richtige Mann für sie ist. Drei Jahre lang haben sie sich jeden Tag mehrere e-mails geschickt. Da kann man sich mit der Zeit besser kennenlernen, als viele unvirtuelle Paare, die sich täglich treffen und dabei doch nichts zu sagen haben. Der Besuch war jedenfalls ein voller Erfolg, schwärmt Jessica. Sie seien eben ein Traumpaar, ist sie überzeugt. Im März kommt Öystein zum Heiraten nach Texas.
Jetzt sind wir erst mal am Bahnhof Zoo. Nach einigem Suchen findet sich endlich ein Taxifahrer, der weiß, daß das gesuchte Hotel im abgelegenen Berlin-Buch zu finden ist. Jessica steigt ein, glücklich, und fährt auch schon davon. Kurzer Einblick in ein kleines Leben, das über Nacht ein großes geworden ist. Volker Weidermann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen