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Das eingeschlossene Vierte

Warum die drei Musketiere unbedingt einen vierten Mann brauchten und auch Karl Marx nicht mit drei Klassen auskam. Über die eigenartige Karriere des Schemas 3+1  ■ Von Frank Ufen

Welche Beziehung besteht zwischen Dumas' „Drei Musketieren“ und der Klassentheorie des jungen Marx? Was hat Pol Pot mit Kants Rassenlehre gemeinsam? Und was verbindet das Prinzip der Gewaltenteilung mit den Heiligen Drei Königen? Für den Marburger Philosophen Reinhard Brandt bestehen zwischen diesen scheinbar völlig disparaten Phänomenen sehr wohl Verbindungen. Was ihnen gemeinsam ist, ist ein Ordnungsprinzip oder Denkschema, für das Brandt zu Recht beansprucht, seine ganze Tragweite als erster erkannt und herausgearbeitet zu haben: das Schema 3+1.

Athos, Porthos und Aramis, die drei Musketiere, sollen – Alexandre Dumas gibt dies überdeutlich zu verstehen – die drei Stände der französischen Gesellschaft vor der Revolution repräsentieren. Athos verkörpert den Schwertadel, Porthos den Bürger als Edelmann, den bourgeois gentilhomme, und Aramis den Klerus. Diese Trias wird jedoch ergänzt um eine vierte Figur, die den drei Musketieren sowohl gleich- als auch übergeordnet ist: d'Artagnan. D'Artagnan personifiziert keinen der gesellschaftlichen Stände, er personifiziert ihre Einheit. Er, der tumbe Tor, der aus der tiefsten Provinz stammt, steht für die glorreiche Vergangenheit und für die harmonische Zukunft der französischen Nation.

Der junge Karl Marx ordnet seinem Klassen-Dreigespann – Adel, Geistlichkeit und Bourgeoisie – eine vierte Gesellschaftsklasse zu, die aber insofern eine Sonderstellung einnimmt, als sie aus der gesellschaftlichen Ordnung verstoßen ist: das Proletariat. Wie d'Artagnan personifiziert auch das Proletariat die Einheit in der Zerrissenheit, denn Marx hat diese Paria- Klasse mit der historischen Mission betraut, die Spaltung der Gesellschaft in Klassen ein für allemal zu überwinden.

Der Massenmörder Pol Pot verfolgte das aberwitzige Ziel, mit seinen Roten Khmer ein Gesellschaftssystem zu errichten, das nur noch aus Bauern, Handwerkern und Soldaten bestehen sollte, und alle übrigen gesellschaftlichen Gruppen zu liquidieren. Pol Pots großer Plan hatte jedoch den Nachteil, daß er selbst, der Intellektuelle, darin nicht auftauchte. Pol Pot war weder Bauer noch Handwerker, noch Soldat, oder er war dies alles in einem, er war der unsichtbare Vierte.

Gemäß Kants Rassenlehre hat die Menschengattung zwar einen einheitlichen Ursprung, sie hat sich später jedoch in vier Rassen diversifiziert. Es gibt die rote, die gelbe, die schwarze und die weiße Rasse. Diese vier Rassen sind einander nur insofern ebenbürtig, als sie Rassen sind. Nach Kants Auffassung steht die weiße Rasse weit über den übrigen, die er als in jeder Hinsicht minderwertig denunziert. Das klassische Prinzip der Gewaltenteilung kennt zwar mit Exekutive, Legislative und Jurisdiktion nur drei Gewalten. Doch diese Dreiheit wurde später von Rousseau um ein viertes, fundamentaleres Element ergänzt – um die sogenannte vierte Gewalt der öffentlichen Meinung. Es bleiben noch die Heiligen Drei Könige. Kaspar, Melchior und Balthasar repräsentieren jeweils ein Lebensalter: das Jugend-, Erwachsenen- und Greisenalter. Und wiederum tritt zu dieser Dreiheit ein weiteres einheitsstiftendes Element hinzu: das Jesuskind, das zugleich der König der Könige ist.

Brandt ist davon überzeugt, daß dieses 3+1-Schema in sämtlichen Epochen der europäischen Kulturgeschichte nachweisbar ist. Und tatsächlich: Ob man Goethes Farbenlehre nimmt, die traditionelle Fakultätenordnung der Universität, die klassische Theorie der Regierungsformen oder Richard Wagners Musiktheorie, immer wieder stößt man auf dasselbe, das Denken und Handeln organisierende und dirigierende 3+1-Muster. Obwohl Brandt nicht den Anspruch erhebt, die Genese dieses Denkmusters rekonstruieren zu können, deutet er an, wo die historischen Ursprünge zu suchen sein dürften.

Denn außer in Europa ist dieses Denkschema schon sehr früh im altindisch-iranischen Kulturkreis zu finden. Die altindischen Gesellschaften der postvedischen Zeit waren aber durchgängig in vier gesellschaftliche Stände oder varna gegliedert, wobei der vierte Stand, die unreinen, aus der Gesellschaft ausgeschlossenen shudra, die Einheit der gesellschaftlichen Ordnung repräsentierte. Es spricht deshalb vieles für die Annahme, daß in dem 3+1-Schema gesellschaftliche Stände-, Kasten- oder Klassenordnungen zum Ausdruck kommen. Das würde bedeuten, daß die Wirkmächtigkeit des 3+1-Schemas in demokratisch- egalitären Gesellschaften im Schwinden begriffen sein müßte. Tatsächlich ist Brandt dieser Auffassung. Er behauptet, daß in den Gesellschaften der Moderne und Postmoderne das Ordnungsprinzip 3+1 weitgehend funktionslos geworden sei. Das Prinzip sei ganz auf statische, zentralistisch-hierarchische Gesellschaften zugeschnitten, die glücklicherweise der Vergangenheit angehörten.

Daran dürfte viel Wahres sein. Ob jedoch die Gesellschaften der Moderne oder Postmoderne zu Recht von sich behaupten dürfen, nicht länger in Klassen gespalten zu sein, erscheint zweifelhaft. Es ist sicherlich kein Zufall, daß das 3+1-Ordnungsprinzip bei zeitgenössischen Gesellschaftstheoretikern wie Habermas und Bourdieu durchaus noch wirksam ist. Wer dieses im emphatischen Sinne aufklärerische Buch gelesen hat, wird sich bald dabei ertappen, einige der Denkschemata im eigenen Kopf in Frage zu stellen.

Reinhard Brandt: „D'Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte: 1, 2, 3/4“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, 295 Seiten, 32 DM

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