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„Terroristenmütter sind mitschuldig“

■ Algeriens Regierung will Opfer und Täter der Gewalt gleichermaßen entschädigen. Angehörige von Terrorismus-Opfern laufen dagegen Sturm

Algier (taz) – „Die Regierung hat uns verraten“, schimpft Ali. Der 34jährige hat 1994 zwei seiner Brüder verloren. „Die Terroristen kamen mitten in der Nacht und suchten mich. Ich war damals bei der Armee“, erzählt er. Als sie den Sportlehrer nicht antrafen, erschossen sie kurzerhand zwei seiner Brüder. Seit Tagen geht Ali mit der Vereinigung der Angehörigen der Opfer des Terrorismus, „Dzazairouna“ (Unser Algerien) auf die Straße. Ob in Algier vor dem Parlament oder in den Provinzhauptstädten vor den Präfekturen – die Szenen gleichen sich. Dutzende empörter Frauen und Männer halten die Bilder ihrer Toten hoch und schreien: „Gegen das Vergessen! Gegen den Verrat!“

Grund der Proteste: Der am 14. Dezember zurückgetretene Premierminister Ahmed Ouyahia hat, drei Tage bevor er das Handtuch schmiß, noch schnell ein Dekret verabschiedet. Die „Opfer der nationalen Tragödie“ sollen entschädigt werden, heißt es darin.

Das alleine wäre kein Grund zur Aufregung; fordern doch die Angehörigen der Opfer des Terrorismus – 120.000 seit 1992 – selbst seit Jahren eine staatliche Rente für Witwen und Waisen. Was Mitglieder von Dzazairouna empört, ist die Definition derer, die unter den Regierungsbeschluß fallen. Dort werden auch die Witwen und Waisen bedacht, deren Ehemann oder Vater als mutmaßlicher Terrorist bei Armee- und Polizeioperationen ums Leben kam oder verschwand. Sie sollen künftig ebenso wie die Angehörigen ihrer Opfer 70 Prozent des Mindestlohnes, umgerechnet 150 Mark monatlich, erhalten, Waisen bis zum Alter von 21 Jahren, Witwen ein Leben lang. Für Mütter mit mehr als einem Kind sind es 190 Mark.

„Das ist unerhört, uns mit den Mördern unserer Kinder und Männer gleichzusetzen“, beschwert sich Houria (47), deren Tochter im Fastenmonat Ramadan vor einem Jahr auf dem Nachhauseweg von der Universität an einer von radikalen Islamisten errichteten Straßensperre aus dem Bus gezerrt und enthauptet wurde.

Die Tageszeitung Le Jeune Indépendant fragt zaghaft, ob das Dekret „der Auftakt zu einer Aussöhnung“ ist. Doch davon will von den Versammelten keiner etwas wissen. „Vergessen? Niemals! Wir haben nichts gemacht. Wir sind anständige Algerier, unsere Angehörigen sind für die Demokratie und das Vaterland gestorben“, sagt Lazera (43), deren Mann nur deshalb auf die Liste der Opfer der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) geriet, weil er als Bahnhofsvorsteher ihnen als Vertreter des Staates galt.

„Warum wollen sie uns eine solche Aussöhnung zumuten? Das ist, als würden wir plötzlich wieder die Harkis akzeptieren“, wirft Said (47) ein. Harkis heißen in Algerien diejenigen, die nicht auf der Seite des Befreiungskampfes standen, sondern in der französischen Kolonialarmee dienten. „Mit dem Dekret will die Regierungspartei RND nur islamistische Stimmen bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen gewinnen“, ist sich der ehemalige Händler sicher. Er wurde 1993 schwer verletzt, als er sich weigerte, den GIA Schutzgelder zu zahlen.

„Die Mütter der Terroristen sind mitschuldig“, meint Houria zum Thema Aussöhnung. „Sie hätten ihre Söhne ja anzeigen können. Statt dessen lebten auch sie von dem, was die Terroristen von ihren Opfern klauten.“ Hourias Tochter haben die Mörder einen Finger abgehackt, um sich einen Goldring anzueignen.

„Wir werden so lange auf die Straße gehen, bis das Dekret vom Tisch ist und der Begriff nationale Tragödie ein für alle mal aus dem Wortschatz verschwindet“, kündigte vergangene Woche der Vorsitzende von Dzazairouna, Djamil Benrabah, an.

Auch von den Verwandten der auf über 2.000 geschätzten Verschwundenen kommt Kritik. „Der Staat möchte sich mit der Entschädigung aus der Verantwortung stehlen, koste es, was es wolle“, klagt ein Vertreter derer, die seit Jahren ihre Söhne und Ehemänner suchen. Seine Vereinigung möchte kein Geld, „sondern die Entführten zurück“. Reiner Wandler

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