Wenn Ödipus französisch baden geht

■ Leerlauf der Bilder mit Sonnenuntergang: André Téchinés neuer Film „Alice und Martin“

Alice liebt Martin, obwohl das kein Glück ist. Denn Martin liebt Alice nicht, obwohl er es vielleicht möchte. Aber er kann nicht. Er ist schön, aber ein wenig dumpf, zu gedrückt für die Liebe, zu sehr mit sich selbst beschäftigt. André Techiné, der Regisseur, der auch das Drehbuch schrieb, möchte uns mit seinem Film neugierig machen auf diesen Mann und seine Schuld, an der er ihn so sichtbar leiden läßt.

Das ist schade, denn viel interessanter ist die Frage, warum Alice gerade ihn liebt, diesen schweigsamen Klotz. Die Liebe ist immer interessanter als die moralische Schuld, und dazu kommt hier, daß Juliette Binoche Alice spielt. Es ist schön, ihr dabei zuzusehen. Sie versucht einer Figur ein Gesicht zu geben, die nur für eine andere konstruiert worden ist, nämlich für diesen Martin mit seinem mythischen Leiden. Doch Téchiné läßt ihr kaum Zeit dazu. Er hat seinen Film in schnelle, hart geschnittene Bruchstücke zerschlagen. Sie bilden ein Puzzle, das sich erst am Ende zu einem vollständigen, retrospektiven Bild zusammenfügen soll. Aber dann ist es zu spät, wenn es so weit kommt, ist schon viel zuviel gesagt worden über diesen jungen Mann. Wir wissen längst, an welch banaler Krankheit er leidet; und viel zuwenig über Alice und erst recht viel zuwenig über die anderen Personen, die mit Martin zu tun haben. Sie alle dürfen niemals mehr sein als Steinchen in diesem Spiel der Rückblenden – und nicht alle sind mit einer Juliette Binoche besetzt.

Wenn es kein Film über einen Mann wäre, der so schön dumm ist, daß er, sobald er seinen Fuß nach Paris gesetzt hat, als Model Karriere macht, dann könnte „Alice und Martin“ auch ein Film über eine Familiensaga sein. Die Konstellation ist klassisch. Ein Unternehmerpatriarch terrorisiert seine Familie, er raubt seinen Söhnen jede Lebenslust, nicht einmal ein bißchen lachen dürfen sie, auch Martin nicht, der Bastard, den er mit seiner Mätresse gezeugt hat und den er ins Haus holt, nur um die anderen zu demütigen. Ausgerechnet er wirft den Haustyrann schließlich in einem Anfall ohnmächtiger Wut die Treppe hinunter, nicht wirklich absichtlich, aber doch so, daß der alte Mann sich das Genick bricht.

Martin irrt danach eine Woche lang im Gebirge umher, so lernen wir im ersten Viertel des Films Alexis Loret in dieser Rolle kennen, noch ohne gesehen zu haben, was ihn derart außer Fassung gebracht hat. Niemand spricht darüber, Alice wird gegen Ende des Filmes herausfinden, daß es sogar ein Abkommen in der Familie gibt, darüber zu schweigen. Der Vatermord hat alle befreit, was niemanden wundern kann. Nur Martin ist nicht frei. Die Schuld, die er auf sich geladen hat, treibt ihn zu allerlei symbolischen Übungen, an denen Téchiné zeigen kann, daß er sich auf bedeutungsschwere Bilder versteht. Die Krise spitzt sich zu, als Alice ihrem Geliebten sagt, daß sie schwanger ist. Plötzlich muß er stundenlang im Meer schwimmen, dazu geht die Sonne unter, schwarz ziehen die Wolken auf, und man darf dabei nicht vergessen, daß im Französischen die Worte für „Meer“ und „Mutter“ gleichlautend ausgesprochen werden.

Kitsch ist das, weiter nichts, denn der Symbolismus der Bilder kann niemals erklären, warum nicht auch Martin einstimmt in das Schweigen, das seine ganze Familie befreit hat. Niemand verurteilt ihn, nur er selber, doch auch das reicht nicht, so daß er als Lösung seines Konflikts beschließt, sich selbst anzuzeigen. Ein Gericht soll urteilen, damit er frei sein kann, so läßt ihn Téchiné reden, ohne auch nur zu bemerken, daß moralische Glaubwürdigkeit das genaue Gegenteil davon wäre. Das kompliziert inszenierte Rätsel des Films bricht in sich zusammen. Es ist nur eine Gedankenlosigkeit des Regisseurs. Nichts ist an der Figur, die er sich ausgedacht hat, Martin hat noch nicht einmal den moralischen Kern der Sage von Ödipus richtig verstanden.

Das hat nun Alice davon, daß sie ihn trotz allem liebt. Sie liebt ihn wirklich, gerade sie, die sich sonst sehr lebenstüchtig als mäßig begabte Geigerin durchs Leben schlägt, wird ihn im Gefängnis besuchen müssen. Auch Martins leibliche Mutter wird das vielleicht tun. Die grandiose Carmen Maura spielt diese Rolle. Sie hat noch weniger Zeit dafür als Juliette Binoche, doch auch ihr gelingt es, den vor sich hin plappernden Mechanismus dieses Films für ein paar Augenblicke zu unterbrechen. Es sind große Augenblicke, aber danach ist der Leerlauf der Bilder um so schmerzlicher zu erkennen. Niklaus Hablützel

„Alice und Martin“. Regie: André Téchiné. Mit Juliette Binoche, Alexis Loret, Carmen Maura u.a. F/E 1998, 128 Minuten