: Ende eines Modells
■ Ende eines Modells Die Krise in Brasilien zeigt: Eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte reicht nicht aus. Denn das Problem liegt viel tiefer
Mit dem Absturz des brasilianischen Real ist mehr ins Wanken geraten als eine Währung: Ein Entwicklungsmodell der Dritten Welt ist gescheitert, für das Brasilien – die achtgrößte Ökonomie der Welt – ein Flaggschiff war. Mit dem international renommierten Soziologen Cardoso als Präsident hatte ein Modell triumphiert, das versprach, die fatale Alternative Inflationsbekämpfung oder Wirtschaftswachstum zu überwinden. Beides gleichzeitig sollte möglich sein – Stabilität und Entwicklung.
Der Kunstgriff Brasiliens bestand in der Anbindung der Landeswährung an den US-Dollar. Ohne den Rahmen der seit Beginn der 90er vorherrschenden Liberalisierungspolitik zu verlassen, konnte man auf diese Weise kurzerhand die US-Währungsstabilität importieren – mit fraglosem Erfolg. Die Wirtschaft wuchs, und nach einst vierstelligen Inflationsraten und einem halben Dutzend gescheiterter Stabilisierungspläne sank die Inflation auf unter fünf Prozent. Der Real, die von Cardoso geschaffene neue, stabile Währung, war das Programm, das den Präsidenten unschlagbar machte. „Ich bin gewählt, um den Real zu verteidigen“, erklärte er nach seiner fulminanten Wiederwahl Ende 1998.
Jetzt hat die Währung innerhalb einer Woche mehr als 20 Prozent ihres Wertes verloren, Tendenz weiter ungewiß. Jetzt geht die Angst um. Nicht nur im Nachbarland Argentinien, wo man die 1:1- Parität des Peso zum Dollar sogar per Gesetz festschrieb, sondern in ganz Lateinamerika. Der ganze Kontinent droht mit in den Strudel der Krise gerissen zu werden.
Die Regierungen beteuern, daß ihre Ökonomien ganz zu Unrecht Opfer der internationalen Finanzkrise werden. Schließlich hätten sie ihre „Hausaufgaben“ gemacht: Liberalisierung des Außenhandels und der Kapitalmärkte, freier Zugang für ausländische Direktinvestitionen, Privatisierung von Staatsunternehmen, Sparprogramme zur Sanierung der öffentlichen Finanzen, the same procedure as everywhere.
Auch der Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, spricht von einer „besonders grausamen Ungerechtigkeit: Brasilien und die anderen südamerikanischen Staaten haben es nicht verdient, durch die Schwierigkeiten anderer in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Diese Volkswirtschaften verfügen über erstklassige Basisdaten. Sie haben glänzende Zukunftsperspektiven.“
Sie hatten, muß man wohl sagen. Derzeit werden die Prognosen nach unten korrigiert. Doch ist an dieser Krise tatsächlich allein das hot money der Finanzjongleure schuld, die die Länder genauso schnell wieder fallenlassen, wie sie sie als emerging markets zuvor entdeckt haben? In diese Richtung zielt der jetzt vielfach zu hörende Ruf nach einer Regulierung der internationalen Finanzmärkte.
Diese Argumentation scheint plausibel, doch sie blendet eines völlig aus: den Entwicklungsweg der lateinamerikanischen Länder. Und dort liegt die Crux. Denn die Strategie der Liberalisierung bei gleichzeitiger Währungsanbindung fußt essentiell darauf, daß man immer größere Mengen internationalen Kapitals ins Land locken kann. Doch damit ist es auch unvermeidlich, daß die Ökonomien hochgradig krisenanfällig sind, wenn dieses Kapital abgezogen wird – sei es durch internationale Finanzkrisen, spekulative Attacken oder schlicht durch bessere Profitmöglichkeiten andernorts. So ist die Asienkrise nicht, wie so gerne gesagt wird, die Ursache für den Absturz in Lateinamerika; sie hat vielmehr die der Strategie inhärenten Probleme offengelegt.
Ein Land der Dritten Welt praktisch mit einer Währung der Ersten Welt auszustatten, wie es die Anbindung an den US-Dollar verspricht, ist verlockend, hat jedoch einen hohen Preis: Eine extreme Hochzinspolitik sowie die Überbewertung der Währung sind notwendige Folgen. Damit aber wird ein rasanter Verschuldungsprozeß in Gang gesetzt.
Brasilien ist dafür ein gutes Beispiel: Zum einen kamen mit der Überbewertung eine Flut nun billig gewordener Importe ins Land, während es die verteuerten Exporte am Weltmarkt schwerer hatten. Das wachsende Loch in der Handelsbilanz wurde durch Kapitalimporte finanziert. Zudem wurde mit der Öffnung des Kapitalmarkts die Aufnahme ausländischer Kredite für Unternehmen und Konsumenten überaus attraktiv – mit dem Ergebnis, daß sich die private Auslandsverschuldung Brasiliens in den letzten vier Jahren mehr als verdoppelt hat. Und nicht zuletzt machten die hohen Zinssätze des „aufstrebenden Marktes“ diesen für Kapitalanleger interessant, so daß die Zentralbank genügend Devisen sammeln konnte, um den überbewerteten Wechselkurs zu garantieren.
Das Ergebnis ist fatal: Die gesamte Auslandsverschuldung des Landes stieg von 123 Milliarden US-Dollar 1991 auf 230 Milliarden Ende 1998. Mag die Schuldenkrise Lateinamerikas vielen als Problem der 80er Jahre gelten und das Thema derzeit out sein – die Entwicklung wird dadurch nicht minder dramatisch.
Parallel dazu ist auch die Binnenverschuldung des brasilianischen Staates massiv angestiegen. Erst durch das hohe öffentliche Defizit sei Brasilien ins Fadenkreuz der spekulativen Finanzinvestoren geraten, argumentiert denn auch der IWF, wenn er darauf beharrt, daß das Problem nur durch eine „falsche Umsetzung der an sich richtigen Politik“ entstanden sei. Doch wie die Auslandsverschuldung ist auch die interne Verschuldung nicht allein durch „Mißmanagement“ oder mangelnde Finanz-“Disziplin“ zu erklären. Sie ist vielmehr logische Folge eines Stabilisierungsmodells via Hochzinspolitik und überbewerteter Währung.
Wenn Überbewertung das Problem war, ist dann Abwertung die Lösung? Ist der jüngste Sturz der brasilianischen Währung gar eine erfreuliche Kurskorrektur, die, wenn auch etwas crashartig, die längst fällige Abwertung vollzieht und damit neue Perspektiven für Wachstum und Entwicklung eröffnet? Darauf setzen in Brasilien Gewerkschaften und Unternehmer, die politische Opposition und selbst Teile der Regierung, die sich eine Wiederbelebung des Binnenmarkts erhoffen. Doch dem stehen formidable Probleme im Weg. Mit der Abwertung wiegt die hohe Auslandsverschuldung noch schwerer als zuvor: Jetzt müssen für jeden zu zahlenden Dollar 20 Prozent mehr an Landeswährung aufgebracht werden. Vor allem aber droht mit der Aufgabe des Wechselkursankers nun eine Inflationsbekämpfung der orthodoxen Art: Rezession.
Denn der IWF hat eine konsequente Hochzinspolitik, die zwar die Inflation hemmt, die aber auch die Wirtschaft abwürgt, zur Bedingung seiner weiteren Unterstützung gemacht. Prompt setzte die brasilianische Zentralbank den Leitzinssatz von bereits sehr hohen 29 Prozent auf schwindelerregende 41 hoch. Der Spielraum für alternative wirtschaftspolitische Ansätze – seien es Kapitalimportkontrollen, eine gezielte Industriepolitik oder insgesamt eine stärkere Binnenmarktorientierung – ist durch die Krise zunächst einmal geschrumpft.
Der IWF verlangt nun von Brasilien: More of the same, aber härter. Und Brasiliens Finanzminister hat die Essentials des IWF bereits als die neue Politik seiner Regierung verkündet: Restriktive Geldpolitik, verschärfte Sparmaßnahmen, die Privatisierung soll beschleunigt werden, auch das Gesundheitssystem soll nun unter den Hammer kommen etc. etc. Die „schönste aller Welten“, in der Preisstabilität und wirtschaftliches Wachstum Hand in Hand gingen, hat sich ausgeträumt. Bislang wurden soziale Kosten der Anpassungsmaßnahmen mit dem Versprechen auf ein langfristig erfolgreiches Wirtschaftsmodell erkauft, gibt es sie jetzt pur als Krisenmanagement.
Nachdem die 80er Jahre zum „verlorenen Jahrzehnt“ Lateinamerikas erklärt worden sind, macht angesichts der neuen Runde von Rezession und Strukturanpassung nun das böse Wort von den submerging markets, den absaufenden Märkten, die Runde. Man muß solchem Untergangszynismus nicht das Wort reden. Doch wenig spricht dafür, daß Cardosos Entwicklungsmodell der liberalen Stabilisierung und Modernisierung, das Versprechen auf „nachholende Entwicklung“ der Länder der Dritten Welt halten kann. Barbara Fritz
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