piwik no script img

Bitterfelder Schönheit

■ Angela Krauß liest im Literaturhaus aus „Sommer auf dem Eis“

Die kleinen, bohnenförmigen Käfer haben Augen, die in entgegengesetzte Richtungen blicken. Auf der einen Seite ihres Kopfes können sie zwei Liebende auf einer Decke im Gras sehen, und auf der anderen, gleichzeitig, die Schornsteinformation Bitterfeld. Eine scheinbare Idylle. Als die Kesselwärterin das Zittern der Anlage spürt, ist es schon zu spät, die Explosion unausweichlich. Sie hat nur noch drei Sekunden...

Mit einem Blick in zwei entgegengesetzte Welten, einem unheilvollen Countdown und zwei Menschen, die die Zeit vergessen haben, beginnt Angela Krauß ihren jüngsten Roman Sommer auf dem Eis. Das Spiel mit Gegensätzen und Blickwinkeln durchzieht den Roman, der sich aus den vielen kleinen Geschichten und Gedanken der Erzählerin, der verliebten Frau im Gras, zusammensetzt: Auf der Decke liegend, neben ihrem schlafenden Geliebten, an einem glühendheißen Sommertag, denkt sie vor sich hin.

Was wahllos erscheinen könnte, verbindet sich zu einer formvollendeten Choreographie: In Pirouetten, Bögen und Schlingen verdreht und entfaltet sich die sommerliche Geschichte wie ein Tanz auf dem Eis. Das Ergebnis ist so schön, daß Anlaß, Grund oder Zweck der filigran getanzten Geschichte zur Nebensache werden.

Wie die Form die Geschichte vor der Zerfahrenheit bewahrt, vermeidet die Sprache jede Oberflächlichkeit. Ein kleines Kunststück angesichts der Tatsache, daß die 44 jährige Erzählerin auf knapp hundert großbedruckten Seiten fast alles anspricht, was die Menschheit je bewegt hat: die Liebe, die Zeit, die Kindheit, die „Einheit“, die Umweltverschmutzung, die Arbeitslosigkeit und das Wetter. In den unaufdringlichen Schilderungen kann man sich wiederfinden – sogar, wenn es um die merkwürdige Anziehungskraft der vergifteten Bitterfelder Schlammteiche geht. Oder um die Fabrikarbeiterin, die sich stets unbändig auf ihr Leben gefreut hat. Die jetzt alt ist, arbeitslos und erschöpft. Oder um die zwanzig Zehen der Erzählerin und ihres Geliebten, die erscheinen „wie ein ganz kleiner Zaun“.

„Die Geschichten von Angela Krauß beginnen stets leise – und meist enden sie auch so“, schrieb die FAZ 1989 über die in Leipzig lebende Autorin, deren Werke mehrfach ausgezeichnet wurden. Auch Sommer auf dem Eis endet leise – und höchst dramatisch zugleich: Die Kesselwärterin hat noch eine Sekunde. Und die Erzählerin betrachtet die Füße ihres Geliebten. Der unausweichliche Knall findet nicht statt. Sabine Claus

Angela Krauß: „Sommer auf dem Eis“, Suhrkamp Verlag, 1998, 104 Seiten, gebunden, 28 Mark

Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen