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Viel Zirkus, wenig (Tanz)-Theater

■ Zum Auftakt des 10. Bremer Tanzherbstes zeigte die Compagnie „Anomalie“ aus Frankreich „Le Cri du Caméléon“ – eine Inszenierung, die (fast) alle begeisterte

Es ist nicht schwer, sich den Unmut vieler Menschen zuzuziehen. Unter KritikerInnen sehr beliebt ist die Methode, an einer erfolgreichen Veranstaltung, der ein begeistertes Publikum minutenlang Beifall und stehende Ovationen zollte, trotzdem herumzumosern. Nicht etwa deshalb, weil man es besser weiß. Sondern eher, weil man etwas anderes erwartet hat vom Auftakt eines Festivals, das sich (noch) „Tanzherbst“ nennt.

Grenzberschreitungen sind verlockende, aber auch gefährliche Unternehmungen. Darin liegt ihr Reiz begründet. Grenzüberschreitungen – auch das impliziert der Begriff – sind gleichbedeutend mit einem Zugewinn an bis dato ungekannten Möglichkeiten, freilich um den Preis der größeren Ferne zum Vertrauten, bis hin zum Risiko des weitgehenden Verlusts der eigenen Identität. Als „Grenzüberschreitung der besonderen Art“ hatten die OrganisatorInnen des 10. Bremer Tanzherbstes den Auftritt der französischen Compagnie „Anomalie“ angekündigt, ihn gar als Auftakt eines Festivals bezeichnet, das ganz im Zeichen dieser programmatischen Vorgabe stehen werde. Nimmt man die erwähnte Reaktion des Publikums im Bremer Theater zum Maßstab, hat sich das Wagnis gelohnt. „Anomalie“ kam, trat auf und hatte nach 80 Minuten grenzüberschreitender Darbietungen alle überzeugt.

Alle? Zumindest all jene, die in der Inszenierung „Le Cri du Caméléon“ des Choreographen Josef Nadj ein gelungenes Experiment mit dem Ziel der Auflösung der Grenzen zwischen Tanz und Zirkus gesehen hatten. Bei anderen jedoch hinterließ der Auftritt des neunköpfigen Ensembles – allesamt Absolventen der führenden französischen Zirkusartistenschule CNAC – den Eindruck, Besucher einer zweifellos beeindruckenden und ungewöhnlichen Zirkusveranstaltung gewesen zu sein, in der jedoch Elemente des Tanztheaters kaum auszumachen waren.

Dabei gestaltete sich der Anfang vielversprechend. Gnome und Riesen purzeln auf die Bühne, ein Mann ohne Unterleib rollt auf einem Koffergefährt vorbei, ein weiterer läuft auf seinen Händen umher und trägt seinen Kopf dennoch hoch oben auf den Schultern. Wo ist oben, wo unten, sind das Menschen oder Fabelwesen – in diesem phantastischen Panoptikum, das an die Kinobilderwelten eines Fellini oder Emir Kusturica erinnerte, greifen schnell die gewohnten Kategorien nicht mehr. Den Charme des Auftakts erreichte die Inszenierung danach nicht mehr.

Was folgte, war ein zusammenhangsloser Reigen einzelner Nummern, die jede für sich viele überraschende Momente bot, aber nur selten als fruchtbare Verbindung tänzerischer und zirzensischer Welten zu überzeugen wußte. Ob hoch oben in der Luft an langen Stoffbahnen hängend oder am Boden mit Hüten, Keulen und Bällen hantierend – „Le Cri du Caméléon“ blieb auch in zweiter und dritter Linie eine Aufführung von Zirkusleuten, von Akrobaten mit Keule und Zauberhut, von Clowns und Artisten, die sich immer wieder mit der Wippe in die Luft schleuderten und auf dem Weg auf die dicke weiße Matratze möglichst viele Schrauben und Salti einlegten. Natürlich beklatschen wir sowas gerne und zurecht, weil es atemberaubend, anmutig und schön ist. Doch mit Tanz hatte das nur wenig zu tun, blieb zum Beispiel in jeder Hinsicht hinter dem Ensemble „Charleroi Danses – Plan K“ zurück, mit dem der letztjährige Tanzherbst begann. Selbstverständlich muß man zugestehen, daß sich der freie Tanz infolge seiner alten Frontstellung gegen das klassische Ballett durch eine grenzenlose stilistische Vielfalt und die Ablehnung eines Kanons für ihn charakteristischer Bewegungen auszeichnet. Doch bleibt da noch ein Rest an „tänzerischer“ Identität, der sich aus den Traditionen des Balletts, des Ausdrucktanzes und des Modern Dance speist und zur Einsicht führt, daß ein außergewöhnliches Zirkusprogramm in einem Theater aus dieser Veranstaltung eben noch keine Tanztheateraufführung macht. Grenzüberschreitungen gelingen nur dem, der eine erkennbare Heimat hat. „Anomalie“ kommt vom Zirkus. Und ist im Tanz nicht angekommen. Franco Zotta

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