: Kultur in Büchern
Platon fand mit seinen Kugelmenschen (in eine Richtung Mann, in die andere Frau) einen Weg aus der Problematik geschlechtlicher Identität. Was aber tun mit den Menschen, die ihre kulturelle Identität aus verschiedenen Einflüssen herleiten, z.B. Einwanderern der zweiten Generation? Sind sie Türken, Deutsche, Deutschtürken, Türkdeutsche, Deutüs? Was ist überhaupt die deutsche Kultur, die Einwanderer übernehmen könnten?
Kulturen sind grundsätzlich hybride, also „zwittrig“. Das jedenfalls nimmt die anglo-amerikanische Theorie an. Die wichtigsten Essays zu diesem Thema sind in dem Band „Hybride Kulturen“ gesammelt und übersetzt. Die Autoren sind nicht von ungefähr großteils Menschen, die selbst zwischen den Kulturen stehen. Edward Said, Stuart Hall und Homi Bhabha sind als Kulturwissenschaftler im englischsprachigen Raum tonangebend, gerade weil sie die Bedeutung ihrer nicht anglo- amerikanischen Herkunft zum Thema machen.
Kulturen sind ständig im Wandel. Die Idee einer reinen Kultur, die auf einer festumgrenzten nationalen Identität basiert, ist eine Fiktion. Damit ist aber auch die Identität des einzelnen nicht stabil. Postkoloniale Autoren wie der Anglo-Inder Homi Bhabha verweigern sich der „bürgerlichen“ Illusion, durch Integration oder Assimilation könnten Menschen neue, in sich gefestigte Identitäten entwickeln. Gerade dieser unüberwindbare Zwiespalt ist das kreative Potential.
Einen geschichtsorientierten Ansatz wählen die „Bilder der Nation“. Kulturelle Identitäten basieren, gerade in Europa, auf nationalen Identitäten. Die wiederum sind nicht einfach da, sie haben historische Ursprünge. Nationale Traditionen sind Konstrukte, die zur Sinnstiftung bei der Entstehung neuer Staatsgebilde in der Vergangenheit notwendig waren. Religion und Dynastie reichten ab dem 16. Jahrhundert nicht mehr aus, das Volk an einen Herrscher zu binden. Als Ersatz bot sich das Gefühlsgebilde der „Nation“ an. Zusammengehörigkeit nach innen durch nationale Werte wie Kampfkraft und Loyalität, nach außen durch Abschluß vom anderen, der über diese Werte angeblich nicht verfügt.
Dem Volk wurden diese Konstrukte als ewige Wahrheiten verkauft. Die diffusen Ängste vor einer doppelten Staatsbürgerschaft bei Teilen des deutschen Etablissements zeugen von der Langzeitwirkung solcher Konstrukte.
Martin Hager
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen