: Vom Wert des Kanzlerworts
So oft wie Gerhard Schröder hat kein Kanzler in den ersten 100 Tagen seine Meinung geändert. Dem Amt hat das geschadet ■ Aus Bonn Bettina Gaus
Ob sie denn nach wie vor glaube, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts werde wie geplant über die Bühne gehen, wollten kürzlich Journalisten von einer führenden Vertreterin der Bündnisgrünen in Bonn wissen. „Bis vor einer Woche hätte ich gesagt, wir haben das Wort des Kanzlers, aber...“ – der Rest der Antwort ging im verständnisinnigen Gelächter der Runde unter.
Das Kanzlerwort: ein Treppenwitz?
Gelegentlich klagen Politiker, die in Schwierigkeiten geraten, das Ansehen ihres Amtes werde durch Kritik beschädigt, auch wenn in Wahrheit lediglich das Ansehen ihrer Person beschädigt wird. Bei Bundeskanzler Gerhard Schröder liegt der Fall anders. Er hat glänzende Umfragewerte, scheint sich nicht in Schwierigkeiten zu sehen und verwandelt in der öffentlichen Wahrnehmung selbst schwere Niederlagen in persönliche Erfolge. Dennoch beschädigt er sein Amt.
Kein anderer deutscher Regierungschef hat sich bisher so oft und freimütig den Medien zur Verfügung gestellt wie Gerhard Schröder. Er findet viel Zeit für Interviews. Das ließe sich als Ausweis jener neuen Kultur der öffentlichen Diskussion und der Transparenz von Entscheidungsprozessen mißverstehen, auf die viele Anhänger von Rot-Grün jahrelang gehofft hatten. Aber um diesen Anspruch einzulösen, müßte Gerhard Schröder zum Zeitpunkt seiner jeweiligen Äußerungen zu erkennen geben, daß er sich seine Meinung noch nicht abschließend gebildet hat und für neue Argumente offen ist. Das tut der Kanzler nicht. In Interviews läßt er keine Unsicherheit hinsichtlich der Festigkeit seines Standpunkts erkennen. Bedenken befallen ihn nachträglich – wenn er bereits eine neue Position gefunden hat.
Wozu hat dieser Bundeskanzler nicht schon alles seine Meinung geändert! Zur Entsendung von Bodentruppen in den Kosovo, zum Holocaust-Mahnmal in Berlin, zum Umgang mit den 630-Mark- Jobs, zum Export von U-Booten, zum Zeitplan der Steuerreform und zum Rahmen des Verbots der atomaren Wiederaufarbeitung, um nur einige Beispiele zu nennen. „Wenn sich die Dinge rundum ändern, dann kann man nicht politische Entscheidungen stur beibehalten wollen“, rechtfertigt Schröder selbst seine Wandlungsfähigkeit. Aber hatte sich je mehr geändert als sein eigener Kenntnisstand über die öffentliche Meinung?
Der Bundeskanzler pflegt sein Image via Bildschirm. Beinahe täglich besucht er mittlerweile auf diesem Weg die deutschen Wohnzimmer. Er kann auch im Anzug hemdsärmelig auftreten, und der routinierte Appell an den gesunden Menschenverstand, ohne den kein Interview auskommt, holt die Zuschauer ins Boot.
Dem Konsens hat Schröder sich verschrieben, als Mittler und Moderator im Falle von Konflikten versteht er seine Rolle. Konsens als Ziel an sich ist ein vordemokratischer Wert. Der Parlamentarismus lebt von der Auseinandersetzung. Es ist eine besondere Ironie, daß ausgerechnet der erste Kanzler der konfliktfreudigen 68er-Generation mehr Rücksicht als jeder seiner Vorgänger auf die Teile der Gesellschaft zu nehmen scheint, denen politischer Streit stets suspekt gewesen ist.
Gerhard Schröder erweckt den Eindruck, bei heiklen Themen erst einmal auszuloten, ob er in schwere Wasser geraten könnte. So haben die ersten 100 Tage der rot-grünen Bundesregierung einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel der öffentlichen Wahrnehmung bewirkt. Nicht mehr die Frage, was der Kanzler gesagt hat, steht im Mittelpunkt des Interesses – wesentlich ist vielmehr, wie, wann und warum er etwas gesagt hat.
Der Regierungschef hat die Richtlinienkompetenz. Kabinett und Fraktionen müssen seine rasanten Kehrtwendungen mit vollziehen, wollen sie nicht den zum Scheitern verurteilten Versuch unternehmen, gegen den Kanzler zu regieren. Wie aber läßt sich ein Kurs vertreten, der ins Ungewisse führt? Während Gerhard Schröder auf allen Kanälen lacht und schwätzt, verstummen die Minister.
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