: Die gnadenlose Aufräumerin
■ Existenzgründerin steht bereit, Chaoten den Papierkram zu ordnen
Die Menschheit zerfällt in zwei Teilmengen. Da sind die einen, die verfügen über Leitz-Ordner, Hängeregistraturen und freien Regalmeter. Sie heften jeden Bankbeleg Minuten nach Empfang an der richtigen Stelle ab. Die anderen ersticken im Chaos ihres Schreibtischs, ihres Arbeitszimmers. Die einen finden die Sozialversicherungskarte binnen Sekunden, die anderen suchen stundenlang und verzehren sich vor Wut über die verlorene Lebenszeit. Zwangscharakter oder Chaot – in der Wiege festgelegt.
Weil aber Chaoten unter dem Chaos leiden und irgendwann vielleicht wirklich einmal ihren Impfpaß brauchen, nimmt es Wunder, daß Bremen so lange darauf warten mußte: auf die erste professionelle Aufräumerin. Seit Oktober letzten Jahres betreibt Andrea Kaldewey (Waage!) ihren Bremer SortierDienst. Motto: BSD schafft Ordnung in Ihren Privat- und Geschäftsunterlagen.
Erst war sie Augenoptikerin, dann Mutter zweier Kinder, dann geschieden, dann über 40 und chancenlos auf dem Arbeitsmarkt. Als sie von einem Papieraufräumdienst in der Zeitung las, war sie interessiert. In Berlin lernte sie die Firma kennen (gegen Bezahlung von 4.000 Mark, versteht sich). Seit 1. Oktober 1998 existiert ihr Geschäft, und weil fast alle Journalisten zur zweiten Gruppe der Chaoten gehören, wurden Funk und Fernsehen aufmerksam. Heute sagt Frau Kaldewey, daß der Laden gut angelaufen ist und vielleicht in einem Jahr genug zum Leben abwirft.
Denn eigentlich ist das Ding ein Selbstläufer. Der Leidensdruck der Unordentlichen ist oft groß bis kaum auszuhalten. Zimmer werden nicht mehr betreten, weil man Angst hat, dem Chaos ins Gesicht zu blicken. Ein Arzt hatte so lange seine Papierkisten im Haus hin und her geschoben, bis seine Frau ultimative Forderungen stellte. „Der war so glücklich, als ich die Kartons mitnahm,“ sagt Andrea Kaldewey. Zehn Bananenkartons trug sie fort, da war aber auch alles drin vergraben, Gerichtssachen, Steuererklärungen, Zettel mit längst vergangenen Telefonnummern. Manchmal tauchen auch Liebesbriefe auf, die ganz offensichtlich nicht von der Hand der Dame des Hauses stammen. Diskretion ist die Geschäftsgrundlage. Man läßt schließlich einen wildfremden Menschen in der Intimsphäre wühlen. Als Sicherheit hat man nur die schönen braunen Augen der Frau Kaldewey. Die erklärt sich die Vertrauenseligkeit so: „Wenn der Leidensdruck groß genug ist, wiegt das schwerer als die Bedenken.“
Der Preis für die Dienstleistung: zwischen 10 und 80 Mark in der Stunde. Einmal brachte ihr ein Journalist zwei Kartons unsortierten Papierkram; ihn kostete die Ordnung schließlich 400 Mark.
Übrigens schaut es in Frau Kaldeweys Arbeitsraum gar nicht beängstigend ordentlich aus. Doch eins kann man bei ihr abgucken: Die Ablagen sind seitlich einsehbar. Nichts ist gefährlicher als anwachsende Papierstapel, die aus den Augen sind. BuS
Tel: 0421/4988214
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