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Ich & mein Magnum

Buddhisten, Scientologen oder die PDS kann man tolerieren, Raucher nicht. Über die neuen Kunstreligionen des Alltags, Mode und Revolte als soziale Gottesdienste  ■ Von Norbert Bolz

Wer wissen will, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, muß ihre Kulte und Rituale beobachten. An den Restbeständen von Manieren und Höflichkeit kann man noch heute beobachten, wie das Zeremonielle das Soziale stimuliert. Doch Kult, Ritual und Zeremonie sind nicht nur das Vollzugsmedium sprachunbedürftiger Kommunikation, sondern auch das Sicherungsmedium, in dem die Gesellschaft das Kommunikationsrisiko kontrolliert. Gemeint ist das Risiko, daß Kommunikationsofferten abgelehnt, Aussagen negiert werden, Redeflüsse versiegen. How do you do? Wie war's im Urlaub? Das Wetter! Das Ritual versorgt uns nicht nur mit dem transzendenzverbürgend Unsagbaren, sondern auch mit dem überlebenswichtig Nichtssagenden.

Damit sind wir bei den therapeutischen, sozialhygienischen Effekten von Kult und Ritual. Der Vorrang des Rituellen ermöglicht den Placebo-Effekt. Hausmüll trennen, Wasser sparen, auf Plastiktüten verzichten – man tut was für die Umwelt. Das hilft vielleicht nicht der Natur, aber der Seele. Und wem es nicht genügt, die eigene Seele zu retten, sondern wer sich auch noch „verwirklichen“ will, dem werden konfektionierte Eigenformeln angeboten, die an den Individualmythos des Neurotikers erinnern. Der Pseudoindividualist der Postmoderne sehnt sich nach dem persönlichen Ritus – eine wunderschöne Paradoxie, die heute von Ritus-Beratern entfaltet wird; das erspart die Psychotherapie.

Das ist die „affirmative“ Hälfte einer neuen Religiosität, als deren „kritische“ Hälfte ich nun die Protestbewegungen kenntlich machen will. Protest setzt sich heute zumeist aus den Verlegenheitsgesten der gegenstandslosen Intellektuellen zusammen. Seine Rhetorik operiert mit Pathosformeln wie „Wut, Trauer und Betroffenheit“ und orchestriert Gesten des Alternativen, die die rechte (also linke) Gesinnung signalisieren. Lichterketten, Mahnwachen, Bahngleise besetzen. Das sind natürlich Verzweiflungsgesten, die auf die Selbstzumutung reagieren, „Verantwortung“ für die ganze Welt zu übernehmen. Bosnien kann uns nicht kalt lassen; die Atombombentests im Südpazifik und das Ozonloch über dem Nordpol aber auch nicht. So ergibt sich als erstes Fazit: Protest ist die Vorwärtsverteidigung dessen, dem Weltverantwortung zugemutet wird. Soziologen haben immer wieder gezeigt, daß Protestbewegungen nicht etwa spontane Organisationsformen zur Durchsetzung einer bestimmten Gesellschaftskritik oder sozialen Forderung sind. Umgekehrt: Die Bildung der Sekte geht der Kritik voraus – sie propagiert den Protest als Königsweg der Sinnsuche.

Es ist sicher kein Zufall, daß im Zeitalter der Virtual Reality die eigentliche Wirklichkeit, Echtheit und Wahrheit auf der Straße gesucht werden: street credibility. Doch die Straße lockt heute nicht nur als der Ort des wirklich Wirklichen, sondern auch des unverfälscht Sozialen. Das gilt nicht nur für die Gesten des Protests, sondern auch für die fröhliche Gegenwelt: Rave. We are family, hieß ein Slogan der Techno-Generation – die Menschheit als Familie. Dieser Kult der Menschheit harmoniert auf den ersten Blick sehr schön mit den bekannten Tendenzen zur One World: wirtschaftliche Globalisierung, medientechnisches Global Village, Weltgesellschaft. Benjamin Nelson konnte die Entwicklung der westlichen Zivilisation noch in das prägnante Schema „from tribal brotherhood to universal otherhood“ einschreiben. Heute signalisieren Menschheitskult und Kommunitarismus eine dramatische Umkehr von der Gesellschaft (otherhood) zurück zur Gemeinschaft (brotherhood).

Obwohl diese Ideologie heute weltweit zu faszinieren scheint, läßt sie sich doch in Deutschland besonders gut beobachten. Die Familie war ja die einzige intakte Institution nach dem Krieg. Hinzu kommt dann das spezifisch deutsche, postfaschistische Tabu über die Nation und den Staat. Das führt heute zu einem Kurzschluß zwischen Familiärem und Menschheit. Und damit schließt sich der Kreis: from (tribal) brotherhood to (universal) otherhood – and back to (global) brotherhood. Der Klan war die präfamiliare Familie; die Menschheit soll nun die postfamiliare Familie sein.

Ein moderner Mensch kann sich weder als Familienmitglied noch als Staatsbürger, noch als ein „anderer“ in der Welt verstehen. Die Welt ist zu groß, die Familie zu klein, die Nation als politische Identitätsformel entwertet. Die Familien sind „segmentär“ – deshalb gehen sie in unserer funktional differenzierten Moderne unter. Nicht aber „das Familiäre“. Und eben das ist der Grund für den heutigen Menschheitskult: Das Familiäre emanzipiert sich von der Familie. Damit ist die Kulturbühne frei für die Pathosformeln des Pazifismus, die Rhetorik der Weltmoral, die Gesten der Solidarität, der Feminisierung der politischen Öffentlichkeit. Gerade weil die moderne Gesellschaft durch Systeme, Funktionen und Differenzen geprägt wird, sehnen sich die Menschen nach dem Gegenteil, also nach dem Sinn, nach dem Ganzen. Und das finden sie in den Phantomen der „Natur“, des „Ich“ und der „Gemeinschaft“.

So steht unsere Kultur heute im Bann der doppelten Tyrannei von Intimität und Gemeinsinn; der gemeinsame Nenner ist Stallwärme. Und hier kann sich eine neue Religion entfalten, die janusköpfig auftritt: Die neue Religion tritt affirmativ im Kult der Marken auf und kritisch in der Protestbewegung. Revolte und Mode – beides sind soziale Heilsgottesdienste. Daß die Mode mit der Attitüde des Revoltierens spielt, wird niemanden überraschen.

Aber heute ist auch die umgekehrte Einsicht fällig: Protest ist in Mode. Warum das so gut funktioniert, liegt auf der Hand. Nur im Protest gegen „das System“ stellt sich die Gesellschaft noch als Einheit dar. Die Kritik des Bestehenden funktioniert als Ersatz für Ganzheit. Genau dagegen profilieren sich der Dekonstruktivismus und die Postmoderne – nämlich als Ruinenwerttheorien. Jede Dekonstruktion verschiebt die Unterscheidung, mit der man gerade noch die Welt beobachtet hat. Insofern kann man sagen, daß an die Stelle von Kritik tritt: deconstruction of the frames. Weil „Rahmung“ aber der Grundvorgang jeder Sinnstiftung ist, kann man auch sagen, daß Dekonstruktion in der Gegenrichtung von „Sensemaking“ operiert. Deshalb hat sie alle Affekte des „ganzen Menschen“ gegen sich. Wo Sinn gestiftet wird, ist immer auch Dekonstruktion möglich. Denn alles Gesagte ist von einem Beobachter gesagt (Maturana), also dekonstruierbar (Derrida). Jede Beschreibung muß mit ihrer „redescription“ (Mary Hesse) als kontingenzerweiternder Fortsetzung rechnen. Das nennen Neokybernetiker Beobachtung 2. Ordnung. Theologen nennen es Vertreibung aus dem Paradies.

Es ist unter soziologischen Beobachtern der westlichen Welt heute unstrittig, daß wir in einer funktional differenzierten Gesellschaft leben. Und das bedeutet eben für jeden Menschen; ich bin wie jeder andere jedermann. Das ist schwer zu ertragen, und begierig greift man deshalb Angebote der Identität und Einmaligkeit auf. Die Individualitätswerte kompensieren wachsende Abhängigkeit und Ersetzbarkeit. Das Ziel dieser Individualität ist aber das allerallgemeinste: nämlich anders als alle anderen zu sein. Wir haben es hier also mit einer verfänglichen Spielart der Sei-spontan-Paradoxie zu tun: Weiche vom Gewohnten ab!

Wenn unsere Kultur aber Einzigartigkeit für jedermann verspricht, dann ist eigentlich nur ein Weg zur Einzigkeit offen: die Kopie. Dieses Paradoxon der kopierbaren Individualität hat man in idealistischen Zeiten durch die dialektische Figur des „individuellen Allgemeinen“ verdeckt. Verdeckt wird dabei – vor allem durch den Bildungsgedanken –, daß es die Erwartungen der anderen sind, die mich als Individuum formen; ich werde mir selbst zur Gewohnheit. Und dann wird es für einen unbefangenen Beobachter schwer, eine anspruchsvolle kulturelle Individualität von der faktischen Individualität dessen, der deklariert, daß er ist, der er ist, zu unterscheiden. Mit dem Namen Individuum feiert man heute nicht mehr den Helden des Bildungsromans, sondern die Selbstgewißheit in kriterienloser Selbstreferenz: „endlich Ich“ – nämlich beim Bier in der Kneipe.

Statt des individuellen Allgemeinen haben wir heute das autologische Individuum zu denken, das sich einzig und allein in dem Anspruch begründet, es zu sein. Was ist ein Individuum? Das ist Sache des Individuums. Zur Legitimation des Selbst genügt es heute, anders zu sein. Das Individuum ist die stabile Illusion, die Kontingenz der eigenen Selektionen sei Anderssein. Diese Aufwertung der Individualität setzt aber voraus, daß die soziale Redundanz anderswo gesichert ist. Zu den autologischen Individuen gehören deshalb paßgenau die Szenen als soziale Ornamente.

Doch Individualität fordert heute nicht nur ein Anderssein als die anderen, sondern auch ein Anderssein als man selbst – also Selbstinszenierung. Der traditionelle Schauplatz dafür ist die Mode. Sie stellt das Urmodell für den Konformismus der Abweichung dar. Wer das unter Titeln wie Kulturindustrie oder Bewußtseinsindustrie beschrieb, schien außerhalb zu stehen – um zu warnen und zu mahnen.

Wir können heute sehen, daß die Gesellschaft durch Gesellschaftskritik immun gegen Kritik wurde. Seither ist „kritisches Bewußtsein“ ein Modeartikel, den man auf dem Markt der Massenmedien kaufen kann. Martin Walser hat in seiner grandiosen Rede über „Die Banalität des Guten“ das Genre der „kritischen Sonntagsrede“ bloßgestellt. Dieser Lippendienst der Political Correctness ist der konditionierte Reflex darauf, daß die Öffentlichkeit „natürlich eine kritische Rede erwartet“.

Abweichung individualisiert und sichert Aufmerksamkeit – ist aber auch riskant. Der traditionelle Königsweg der Individualisierung war deshalb die überbietende Leistung, also Abweichung in der Konformität. Heute dagegen ist die Abweichung selbst die Konformität. So hat auch die theologische Unterscheidung orthodox/häretisch die Vorzeichen gewechselt. Heute will jeder Querdenker und unkonventionell sein, eben unorthodox – vor allem: Kirchenvertreter. Oder man will unbürokratisch handeln – vor allem: Bürokraten.

Die Individualität tritt mit dem selbstverständlichen Anspruch der „Eigenrichtigkeit“ auf. Damit ist aber das humanistische Definitionsmonopol des Menschen gebrochen: Jeder kann nun nach seiner Fasson „menschlich“ werden. In einer individualistischen Kultur gibt es weder ein Maß des Humanum noch ein Mehr an Menschlichkeit. Individualität kann man nicht steigern, sie ist ja immer Sache des Individuums.

Das alles kann nur deshalb gutgehen, weil das Individuum den entscheidenden Prozessen unserer Welt nicht in die Quere kommt. Machen wir das einmal an zwei einfachen Beispielen fest. Technikangst ist ein Symptom dafür, daß der Mensch jenseits der Technikevolution plaziert ist. Politikverdrossenheit ist ein Symptom dafür, daß der Mensch kein Teil der gesellschaftlichen Systeme ist. Will man ihn positiv identifizieren, so bleibt nur das Individuum als gefrorene Kontingenz. Und damit sind wir bei einem Schlüsselgedanken Niklas Luhmanns angelangt: Das Individuum ist aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Deshalb macht es auch einen guten Sinn zu sagen, das Individuum sei an die Stelle Gottes getreten – es wird transzendent durch Exklusion.

Weil das Individuum aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist, empfindet es sich als schutzbedürftig. Es will in Watte gepackt werden und wird – mit Walter Benjamins präzisem Wort – zum Etui-Menschen. Cocooning nennt man das heute. Ich und mein Magnum im behaglichen Stübchen. Oder der tollpatschige Lehrer, der täglich vom Regen in die Traufe der Schule stolpert – abgefedert nur von dem Stückchen heile Welt, das ihm sein Opel Astra bietet. Der Geschäftsmann landet im Nahen Osten: Gestank, Geschrei. Doch dann öffnet sich die Tür des angemieteten Mercedes, und schon umhüllt ihn wieder die heile westliche Welt.

Das ist gerade auch für den postmodernen Tourismus charakteristisch: das Abenteuer als Präparat. In der Welt als Versicherung wird Unsicherheit zum Reiz. Gefährlich leben – im Urlaub. Dazu braucht man Führer nicht aus der Gefahr, sondern in die Gefahr, also Verführer. Und dem entspricht, daß die Identität zum Abenteuer wird. Ich riskiere, also bin ich. Doch das bleibt natürlich alles im Kokon der Multikulti-Ideologie: die Welt als Basar des Exotischen. Man ist für die kolumbianischen Kaffeebauern oder ißt thailändisch; man trägt palästinensische Schals und kurdenfreundliche Gesinnung. All das verpflichtet zu nichts und kann morgen ausgewechselt werden. Die Unterschiede zwischen den Kulturen werden als touristische Werte vermarktet. So entwickelt sich der moderne Mensch zunehmend zum Umweltproblem der Gesellschaft – und projiziert es dann auf die Welt. Daß das Individuum außerhalb der Gesellschaft steht, zeigt sich eben auch daran, daß es ständig klagt. Als Individuum bin ich aus der Gesellschaft ausgeschlossen – das ermöglicht zum Beispiel den Philosophen, Subjektivitätstheorien aufzustellen. Als Person nehme ich an Gesellschaft teil – so bin ich eine Adresse, etwa im Internet. Nicht als Humanum also, sondern als Adresse bin ich Teil der Gesellschaft. Und weil der Mensch aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde, kehrt er als Geist wieder: eben als Individuum.

Es ist also nicht so, daß die Globalisierung und Universalisierung der westlichen Lebensformen nivellierend wirken würden. Im Gegenteil: Weltgesellschaft steigert die Individualisierung. Die Massenmedien nehmen sich nun des Menschen an, den die Gesellschaft aus sich ausgeschlossen hat. Individuen sind insofern die charakteristischen Eigenwerte der Massenkommunikation. Und damit befriedigen die Medien ein tiefes menschliches Bedürfnis. Es ist uns nämlich nicht gegeben, uns klaglos von Institutionen konsumieren zu lassen, auf Weltkomplexität mit Eigenkomplexität zu reagieren und im fröhlichen Rollenspiel am Alltagstheater des Systempluralismus teilzunehmen. Gesellschaftliche Differenzierung fordert kompensatorische Rituale der Einheit. Und Einheit gewinnt ein Ich in der Faszination (s)eines Bildes. In diesem Bild des Heils bin ich dann nicht mehr Adresse, Bewußtsein, Wähler, Schuldner oder Steuerzahler, sondern der „Mensch ganz“, den die Idealisten von Schiller bis Lukács im Ästhetischen konstruierten. Heute pflegen ihn die Talkshows.

Sich selbst zu verwirklichen, indem man sich selbst zu Aufgaben herausfordert, die man selbst bestimmt – das war schon immer das Arcanum des Künstlers. Er ist genauso das unüberbietbare Paradigma der Selbstverwirklichung, wie das Kunstwerk das evidenteste Modell gelungener Individualität ist; es gefällt durch sein Anderssein. Und die Entwicklung der modernen Gesellschaft fördert das Vordringen des Ästhetischen in den Alltag. Denn je komplexer eine Gesellschaft ist, desto wahrscheinlicher wird abweichendes Verhalten. Modernisierung der Gesellschaft und Ästhetisierung des Alltags hängen also eng zusammen.

Doch Andy Warhol und Josef Beuys zum Trotz: Nicht jeder kann Künstler werden, um Individuum zu sein. Es gibt aber auch einfachere, gesichertere Wege. Zunächst einmal gilt prinzipiell: Abweichung individualisiert und sichert Aufmerksamkeit – ist aber auch riskant. Der Königsweg der Individualisierung in der bürgerlichen Gesellschaft ist deshalb die überbietende Leistung – formelhaft gesagt: Abweichung + Konformität. Genau das leistete früher der Held, und das leistet heute der Workaholic. Beide weichen individualitätsstiftend vom Muster ab – aber eben nicht durch „deviantes Verhalten“, sondern durch Überbietung des sozial Erwarteten. Der Held und der Workaholic sind wirklich anders als die meisten; doch ihr Anderssein ist ein Mehrleisten in Richtung dessen, was die meisten tun.

Es gibt aber auch einen Kurzschluß zwischen Abweichung und Konformität, der gerade für unsere gegenwärtige Kultur charakteristisch zu sein scheint: Alle wollen anders sein als all die anderen; das alternative Leben wird zum neuen Spießertum, die Subversion wird zum Mainstream. Das ist die Welt der Selbstinszenierung. Sie kann sich philosophisch antik aus einer Ästhetik der Existenz begründen oder mit dem unübertrefflichen Begriff „self-fashioning“ beim Namen rufen. Sehen wir näher zu. Das Leben inszeniert sich selbst und erfindet seine Identität. Man kann sich zwar nicht ändern, aber umerzählen und ein neues „Make- up der Identität“ auflegen. Während Frauen aber im allgemeinen noch zwischen Schminke und Haut unterscheiden können, glaubt das Individuum an seine Identität. Man könnte auch sagen: Die Wahl der Eigenformel ist der Aberglaube der Postmoderne.

All das wäre nicht möglich, wenn es uns die Gesellschaft nicht tatsächlich erlauben würde, die eigene Biographie als Wahl zu konzipieren: Ich studiere Ethnologie oder Zahnmedizin – gehe zwei Jahre in die USA oder Frankfurt an der Oder – breche das Studium ab – gehe zum Fernsehen oder werde Trendforscher. Die Kaskade der Optionen des je eigenen Lebenslaufs läßt sich kaum andeuten. Und das gilt auch für die Beziehung zu anderen. Auch hier herrscht die Logik von Trial and Error. Die Ehe ist ein Beziehungstest nach dem Prinzip der „Wahlverwandtschaft“; und die Scheidung versteht sich als Selbsterlösung aus der Beziehungsfalle. Partner wie Teams sind auf Wechsel angelegt. Die Grundunterscheidung der Selbstverwirklichungskultur ist also die Geste, mit der das Selbst seine eigene Grenze als unantastbar markiert. Und weil es diese Unantastbarkeit zugleich allen anderen unterstellt, resultiert ein paradoxer Individualisierungszwang. Ganz generell wird einem zugemutet, unverwechselbar zu sein. So entsteht das Selbst als dramatischer Effekt des Alltagstheaters.

Wir haben es längst mit einer Art Kunstreligion des Alltags zu tun; positiv besetzte Begriffe wie Ritual und Lebensstil zeigen das deutlich an. Und wer die immer wieder rätselhafte Jugend von heute begreifen will, wird von der Ästhetik der Szene besser beraten als von der Soziologie der Gruppe. Auch die Wirtschaft hat sich längst darauf eingestellt. Ihre Kundenansprache setzt nicht mehr auf die USP, sondern auf Kultmarketing; sie ködert nicht mehr mit Preisen, sondern mit Events. Und das hat sie von der Wirklichkeit der Medien gelernt, die von uns allen nach Modellen der Selbstinszenierung abgesucht werden. „Nur ästhetisch läßt sich der Wunsch erfüllen, nicht so zu sein, wie man ist.“ Escape heißt ein Duft von Calvin Klein, das ist das Heilsversprechen der Selbstverwirklichung: Flucht aus der Kontingenz und Komplexität.

Das Individuum entsteht in der Selbstbeobachtung seiner Leiden – doch das will gelernt sein. Zum Individuum gehört deshalb der Therapeut, der Berater der Leiderfahrung, der Trainer der Selbsterlösung. Er sorgt dafür, daß ich die Individualität als Dauertherapiebedarf, als permanente Heilungsbedürftigkeit deute. In der therapeutischen Gemeinschaft wird jeder stimuliert, über sich selbst und seine Probleme zu sprechen – unter der Voraussetzung, daß man nicht nicht verstanden werden kann. So werden wir alle immer sensibler. Sensibilisierung heißt ja, daß man mehr leidet, obwohl man weniger Grund dazu hat – Leiden ist also ein Wachstumsfaktor. Das setzt den keineswegs selbstverständlichen Sachverhalt voraus, daß unsere Kultur das bloße Leben als höchsten Wert anerkennt. Höchste kulturelle Priorität hat es deshalb, das Leid der Seele zu erkunden und dem Körper Leid zu ersparen. In diesem Gesundheitskult geht es um Selbsterlösung durch Selbstmedikation: Wellness, Trennkost oder Urschrei. Einziges Kriterium ist auch hier die Unantastbarkeit der Grenzen des Individuums: Buddhisten, Scientologen oder die PDS kann man tolerieren – aber keine Raucher!

Ein Außenstehender könnte sich angesichts des Selbstverwirklichungsmilieus fragen: Ist das nicht wahnsinnig anstrengend, immer anders und eigen, immer original und originell zu sein? War es nicht sehr viel lebensdienlicher, das Heil von Gott oder der Gesellschaft zu erwarten, als nun selbst dafür verantwortlich zu sein? Man muß wohl Nietzsche oder zumindest Oscar Wilde heißen, um unter der Last der reinen Selbstprogrammierung nicht zusammenzubrechen. Doch daraus folgt auch schon meine Schlußthese: daß nämlich die Individualisierung nur deshalb ein überzeugendes Kulturprogramm werden konnte, weil sie immer schon durch ein zweites, kompensatorisches Programm balanciert war – nämlich durch den ethnischen Universalismus. Im Klartext: Das Phantomkollektiv „Menschheit“ funktioniert als Entlastung von der Zumutung der „Selbstverwirklichung“. Damit wird aber die Konstellation der Stoa wieder aktuell: Kosmopolitismus + Individualismus. Man appelliert wieder an die Physis – gegen den Nomos. So hat Hippias in Platons Protagoras sein Publikum als „Mitbürger von Natur“ angesprochen. Man ist politikverdrossen, aber verliebt ins Humanum.

Doch auch das ist letztlich nur eine Immunstrategie des eigenwertigen Selbst. Alle sind seine Brüder, mit denen es fernethisch Mitleid empfindet; und deshalb kann kein Besonderer ihm nahekommen. Ich und mein Magnum – und wir sind alle Ausländer. Das selbsterlöste Individuum liebt die Menschheit und genießt sich dabei im Narzismus des ethischen Appells: Ich bin besser als der konkrete je andere.

Der Text ist ein gekürztes Kapitel des neuen Buches von Norbert Bolz, das im März unter dem Titel „Das Ende der Kritik“ im Fink- Verlag erscheinen wird.

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